mail aus manila
: Die selbst erklärte Hauptstadt der SMS

Die Filipinos nennen es „Txting“, und es beherrscht den Alltag: Nirgendwo wird so viel gesimst wie in Manila

G. hat sein Handy verloren. Oder ist es ihm gestohlen worden? Er ist sich nicht sicher. Auf jeden Fall ist es weg. Als ich ihm zufällig auf der Bank begegne, ist er verzweifelt. Sein ganzes Sozialleben steht vor dem Zusammenbruch. Telefonnummern, Kontaktdaten, Termine, alles weg. Und das Schlimmste: Niemand kann ihn mehr erreichen! Alle werden denken, er will sie abwimmeln, wenn er nicht prompt auf ihre SMS-Messages antwortet. G. hat dem gesellschaftlichen Aus ins Gesicht gesehen, das sieht man seiner Elendsmiene an.

Viele Leser werden G.s Verzweiflung nachvollziehen können. Auch in Deutschland können sich viele ein Leben ohne Handy nicht mehr vorstellen. Aber: In den Philippinen ist ein Leben ohne Handy noch viel schlimmer! Die Philippinen sind in kaum einem Bereich Weltspitze, aber in einem auf jeden Fall, das ist statistisch nachgewiesen: im Versenden von SMS, oder, wie es hier heißt, im „Txting“.

Txting hat sich in den letzten Jahren zu einem der wenigen Märkte entwickelt, der in dem wirtschaftlich vor sich hin dümpelnden Inselstaat wächst und wächst. Rund 150 Millionen Nachrichten bewegen sich täglich von einem Mobiltelefon zum anderen. Mehr als 22 der 80 Millionen Filipinos besitzen ein Handy – es gibt nur 3 Millionen Festnetzanschlüsse im ganzen Land. Manila nennt sich stolz die „SMS-Hauptstadt der Welt“, ein Slogan, der sogar schon auf patriotische T-Shirts gedruckt wird. Die Telefongesellschaft PLDT verdient seit drei Jahren mehr Geld mit Mobilkommunikation als mit Festnetztelefonaten. Und ihre Mobiltelefon-Tochter Smart macht über 80 Prozent ihrer Gewinne mit SMS-Nachrichten. Für Gespräche benutzen nur die wenigsten Filipinos das Handy, denn eine einzige Sekunde Telefonat ist schon teurer als ein „Txt“, der für einen Peso (etwa anderthalb Euro-Cent) verschickt wird. Auf den Straßen und in den Shopping Malls ist das Piepsen von eingehenden Nachrichten zum ununterbrochenen Hintergrundgeräusch geworden. Marktfrauen und Motorrikscha-Fahrer, Kokosmilch-Verkäufer und Straßenfeger tippen mit einer Inbrunst und einer Geschwindigkeit auf ihre Handys ein, die deutsche Teenager vor Neid erblassen lassen dürfte. Wer nicht textet, fällt schnell aus dem sozialen Leben heraus.

Während SMS in den meisten europäischen Ländern vor allem ein Zeitvertreib für junge Leute ist, ist es in den Philippinen eine generationenübergreifende Obsession: Präsidentin Gloria Arroyo schickt Anweisungen an ihr Kabinett via SMS. Parlamentarier tauschen während der Debatten per Text Messages aus. Die Bauern in den Provinzen erfragen per Handy die besten Preise für Mangos und Ingwer. Soziologen, die das Phänomen untersucht haben, sehen den Grund für das kollektive Dauersimsen im Gemeinschaftsbedürfnis der Filipinos. Am liebsten möchten sie mit allen, die sie kennen, ununterbrochen in Kontakt stehen. Und wenn einer nicht in wenigen Minuten auf eine Nachricht antwortet, ist das schon fast ein Affront. Ein anderer Grund für die Popularität der SMS: Die Handy-Botschaften erlauben den traditionell zurückhaltenden Filipinos direktere Umgangsformen. Viele Leute schreiben sich per Handy Dinge, die sie sich nie direkt ins Gesicht sagen würden.

Bloß G. kann erst mal niemandem mehr irgendetwas per SMS mitteilen. Bis er sich ein neues Mobiltelefon kaufen kann, muss er erst auf sein nächstes Gehalt warten, sagt er. Das letzte ist schon vertextet.

TILMAN BAUMGÄRTEL