Und vor allem, Rainer, hör ...

Das Krankenhausmuseum in Bremen-Ost zeigt die Entwicklung der neueren medizinischen Literatur für Kinder und Jugendliche. Ganz vorn dabei: der „Struwwelpeter“ in allen Varianten

Von Henning Bleyl

Als Heinrich Hoffmann für seinen dreijährigen Sohn den „Struwwelpeter“ malte, dachte er an Manieren. An ungewaschene Finger, Unartigkeit und ungepflegtes Haar. Nicht aber an die Begründung einer Tradition: Heute gilt sein pädagogisch-brachiales Werk von 1845 als Ausgangspunkt der neueren medizinischen Kinder- und Jugendliteratur. Deren Erzeugnisse sind derzeit in einer Ausstellung des Krankenhaus-Museums in Bremen-Ost zu sehen.

Im Rückblick betrachtet beinhaltet der „Struwwelpeter“ in der Tat die prototypische Beschreibung zahlreicher psychischer Erkrankungen, die bei Kindern und Jugendlichen heute aktuell sind. Hoffmann, einer der ersten Psychiater seiner Zeit, skizzierte mit dem „Zappelphilipp“ das ADS-Syndrom, der „Suppenkaspar“ lässt sich als Betroffener einer Essstörung interpretieren. Auch in Sachen Verwahrlosung ist der „Struwwelpeter“ bekanntlich reich an Beispielen.

Nun kann man durchaus darüber streiten, ob die Androhung abgeschnittener Finger eine adäquate Maßnahme für Dreijährige ist. Nichtsdestotrotz hat Hoffmann eine Unmenge von Nachahmern inspiriert: Es gibt die „Struwwellise“ und den „Schwuchtelpeter“, dessen Ermahnung sich so anhört: „Rainer! sprach die Frau Mama, ich geh‘ raus und du bleibst da. Und vor allem, Rainer, hör‘, spiel nicht am Du-weißt-schon mehr.“ Denn der Schneider mit der Scher‘, kommt sonst ganz geschwind‘ daher.“

Zusammen mit dem Troisdorfer Bilderbuchmuseum – das wiederum die reichhaltige Sammlung des Kinderarztes und Medizinhistorikers Axel Murken geerbt hat – hat das Krankenhausmuseum all‘ diese „Struwwelpeter“-Adaptionen zusammengetragen, darunter auch die politisch lästerliche Variante: „Heinrich, sprach Frau Wilhelmin‘, lass auf Staatsbesuch uns ziehn. Lerne laut, wohin wir reisen und wie dort die Leute heißen. Und vor allem, Heinrich, hör!, halte keine Rede mehr.“ Das geht auf den seinerzeitigen Bundespräsidenten Lübke.

Optischer Höhepunkt der Ausstellung ist freilich „Der gute Doktor“, 1908 von Max Nassauer getextet und gemalt: Eine Art Art déco-Comic, dessen prächtige Bildgeschichten mit einem Projektor an die Wand geworfen werden. Da gibt es den „hastigen Heini“, der vor lauter Nervosität immer alles umwirft und Franz, den Kernschlucker, auch kein Vorbild. Oder, weil man ja auch am positiven Beispiel lernt, die „brave Rose“: Die lässt sich anstandslos in den entzündeten Hals gucken.

Ähnlich einprägsame Gesundheitskinderbücher, wie sie mit „Struwwelpeter“ und „Der gute Doktor“ um die Jahrhundertwende entstanden, kamen offenbar erst wieder in den Achtzigern auf den Markt: Mit „Karius und Baktus“ setzte Thorbjörn Egner der prophylaktischen Zahnheilkunde ein literarisches Denkmal. Da kam auch später kein Colgate-Hase und ähnliches Animations-Getier hinterher. Als weiterer Entwicklungsstrang ist das allmähliche Aufkommen von Aufklärungsliteratur nachzuvollziehen. Mit „Wo die Kindlein herkommen“ war 1919 ein scheuer Anfang gewagt, Anfang der 20er folgte der Band „Wie Hannchen Mutter ward“, auch das zarte „Mutter, sag‘ es mir“ von Germaine Montreuil-Straus kam auf den Markt. Dann war wieder Schluss mit Aufklärung – „Das gesunde Geschlechtsleben vor der Ehe“ von 1940 lässt sich vorrangig über „Enthaltsamkeitsstörungen“ aus.

Erst die Einführung des Schulfachs Biologie Ende der Sechziger bringt wieder Bewegung in die wissbegierigen Köpfe. Dann aber geht es bekanntlich sehr schnell: Ganz oben auf der Freizügigkeitswelle schwimmt Günter Amendts „Sexfront“, das in roten Lettern aus der Vitrine knallt.

Kommenden Mittwoch (16 Uhr) lesen SchülerInnen des Schulzentrums Walliser Straße Gedichte und andere Texte von Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Ausstellung ist bis zum 15. April zu sehen