Unter Einfluss

Ewig kann man nicht unter sich bleiben: Das Festival „France en Scène“ will an sieben Berliner Spielorten neue Entwicklungen des französischen Sprechtheaters zeigen

VON SIMONE KAEMPF

Das Unheil kommt auf Zehenspitzen, schleichend. Erst einmal ist der Raum ins Halbdunkel getaucht. Von Ferne hört man Vögel zwitschern und manchmal ganz leise Musik. Wenn dann die beiden Schwestern lautlos durch den Raum schleichen, fühlt man sich unweigerlich an einen dieser Krimis erinnert, in denen die Menschen bei Nacht keine Ruhe finden und ins Wohnzimmer schleichen, obwohl Gefahr in der Luft liegt.

Es erscheinen dann noch mehr Familienmitglieder in Joël Pommerats Inszenierung von „Au Monde“. Ganz zuletzt Sohn Ori in seiner Offiziersuniform. Er war in irgendeinem Krieg. Eine Behinderung oder eine Verletzung wird angedeutet. Er soll die Nachfolge des Vaters antreten, aber man erfährt nicht, welche. Man weiß auch nicht, warum die eine Tochter nie über das Kind redet, das sie erwartet, während sich die andere die Abschaffung der Arbeit als Befreiung der Menschheit herbeifantasiert. Aber man ahnt vieles, denn Pommerat schafft es, immer gerade genug, aber nie zu viel zu sagen.

Im sprachverliebten französischen Theater war Pommerat, Jahrgang 1963, mit seiner zurückgenommenen Art im vergangenen Jahr der Regisseur der Stunde. Ein Modernisierer, der zeitgenössisch von Vätern und Söhnen, Schuld und Reue, Geld und Kälte erzählt. Über Nacht kam sein Erfolg jedoch nicht. Seit 16 Jahren arbeitet Pommerat mit seinem eigenen Theater-Ensemble – und so ist er auch Sinnbild dafür, dass die Verjüngung und die Auflockerung althergebrachter Spielweisen in Frankreich länger braucht. Aufzuhalten ist sie jedoch nicht.

Klar also, dass Joël Pommerat auf dem Festival „France en Scène“ vertreten ist, das sich für jene Arbeiten stark macht, die Experimente wagen und von den Einflüssen aus anderen Genres profitieren. An sieben Berliner Spielorten werden noch bis zum nächsten Wochenende knapp zwei Dutzend Inszenierungen, Lesungen, Performances und Tanzstücke zu sehen sein. Als größte Überraschung entpuppt sich schon jetzt der Nouveau Cirque. Ein Genre, das man kaum auf der Rechnung hat und das doch souverän die Grenzen dessen sprengt, was man mit dem Titel Zirkuskunst in Verbindung bringt.

Der Abend „Plus ou moins l’infini“ (Mehr oder weniger Unendlichkeit) der Compagnie 111 beginnt wie ein Tanz aus Stäben, der an die mechanischen Ballette der 20er-Jahre erinnert. Dann greifen Hände aus dem Boden. Köpfe suchen sich Körper. Der Mensch entsteht, greift nach den Stäben, strebt in die Senkrechte wie in der Evolution. Eine Mischung aus physikalischem Experiment und modernem Tanz. Warum tut sich das Schauspiel so schwer, ähnliche Bögen zu schlagen?

„In den 90er-Jahren hatten die französischen Philosophen einen starken Einfluss auf das deutsche Theater. Die Dekonstruktivisten beeinflussten den Umgang mit Texten in der Weise, ihn auseinanderzunehmen. In Frankreich selbst war das nicht so“, erzählt Carena Schlewitt, Kuratorin am Hebbel am Ufer. Als sie für das Festival herumreiste, war sie zudem überrascht, dass es zum Beispiel zwar starke politische Studentenbewegungen gäbe, aber dass zwischen den einzelnen Szenen wenig Austausch stattfindet.

Die Zuschauer tun ihr Übriges. Wer einmal erlebt hat, wie in Paris eine Christoph-Marthaler-Inszenierung von Zwischenrufen, ja einer richtigen Welle der Wut aus dem Publikum unterbrochen wurde, der ahnt, gegen welche Kräfte es im Zuschauerraum anzutreten gilt. So fällt auch auf, dass viele Arbeiten, die bei „France en Scène“ gezeigt wurden, von Theatern und Kulturzentren der kleineren Städte koproduziert wurden, abseits der Metropole Paris. In der Provinz sieht man offenbar eher die Chance, die Widersprüche zwischen Alltag, Religion, Vorstadt und sozialen Unterschieden zu thematisieren. Dass an diesen Häusern keine eigenen Schauspielensembles existieren, provoziert zwar eigene Probleme, aber auch Qualitäten. Die einzelnen Gruppen entwickeln ihren eigenen Stil und nutzen den Wanderbetrieb. Das Schauspielerkollektiv Théâtre des Lucioles lädt wechselnde Regisseure ein, mit ihnen zu arbeiten. Hamid Ben Mahi ist eigentlich als Hiphop-Choreograf bekannt, hat aber mit „Faut qu’on parle!“ einen Tanz- und Theaterabend entwickelt, der von seiner algerischen Herkunft erzählt.

Solche realen Themen haben in den hermetischen Sprachwelten eines Valère Novarina keinen Platz. Als der in Frankreich so verdiente Dramatiker und Regisseur im Berliner Institut Français vorgestellt wurde, war man wieder mitten in der alchimistischen Welt der Worte, die das Theater in Frankreich so sehr schätzt. Als Novarina selbst aus seinem vorletzten Stück „L’Origine rouge“ las, bekam man zwar eine Ahnung, warum sein Theater über die Sprache „atmen soll, weil atmen auch denken ist“. Aber im Gegensatz zu dem, was auf dem Festival sonst noch läuft, sah er damit ziemlich blass aus.

„Faut qu’on parle!“ 20. + 21. 3. im HAU3, „La Tour de la Défense“ Théâtre des Lucioles, 30. + 31. 3. in der Schaubühne, „D’après Nature“, 30. + 31. 3. HAU2, komplettes Programm: www.france-en-scene.de