Wiktor und die grauen Männer

Die besten Geschichten passieren in Zügen. Wiktor, der Schnapsoligarch, ist so eine Geschichte. Wir fuhren zu dritt in der Nacht von der Krim herunter, wir wollten schlafen, aber Wiktor wollte nicht, er hatte das gesamte Abteil mit Obst ausgelegt und ein paar Bilder von Jesus Christus und den Heiligen dazugestellt, Ikonen, Wiktor war sehr religiös und fastete.

Wir aßen, wir tranken und Wiktor erzählte von seiner Heimatstadt Donezk und sagte: „Ihr wart in Kiew und ihr wart im Süden, aber wenn ihr die Ukraine wirklich verstehen wollt, dann müsst ihr in den Osten fahren.“ Und wir sagten, uns habe man erzählt, im Osten seien die Städte hässlich und voller Kohlenrauch und außerdem klängen ihre Namen so, als hätte sie Tolkien für seine finstersten Länder erdacht: Charkiw. Luhansk. Und er lachte und sagte, das stimme wohl, aber wir müssten trotzdem hin, und dann schenkte er uns wieder ein und wir versprachen, bald wiederzukommen und dann den Osten zu besuchen.

Das ist heute genau ein Jahr her.

Um die 1.000 russische Soldaten sollen im Osten der Ukraine unterwegs sein. In Luhansk und Donezk wird geschossen. Ukrainische Kämpfer haben Gefangene, andere ukrainische Kämpfer, durch eine Stadt geführt, um sie zu demütigen. Ob die russische Regierung tatsächlich Truppen ins Nachbarland schickt oder ob Kiew mit solcherlei Propaganda das eigene Versagen bemänteln will, wird wahrscheinlich erst herauszufinden sein, wenn dieser Krieg schon längst zu Ende ist und Putin und Poroschenko das Land nach ihrem Gusto zurechtverwüstet haben.

Wiktor hatte auch eine Vision von der Ukraine, die vor allem darin bestand, dass er sie eines Tages vollständig mit Wodka und anderem Alkohol versorgen würde. Er führte ein Unternehmen, das solcherlei vertrieb – und die Firma expandierte. In einem Büro neben einem Fußballplatz träumte er davon, bis nach Westeuropa zu liefern. Wir waren die Vorhut. Nach dem besten ukrainischen Wodka hatten wir ihn gefragt, den wollten wir mit nach Berlin nehmen. Stattdessen fuhren wir mit Grappa zurück. Der Westen sollte erfahren, dass der wirklich gute Stoff aus dem Süden der Ukraine kommt.

Grappa aus der Ukraine? Verrückt? Nun ja, auch nicht verrückter als das, was Amazon in dieser Woche getan hat.

Eine Milliarde Dollar hat der Versandhändler Amazon dafür ausgegeben, eine Videoseite zu kaufen, auf der Menschen anderen Menschen beim Computerspielen zuschauen dürfen. Die heißt Twitch. Sind die bei Amazon irre geworden an der eigenen Rolle des bösen Monopolisten auf dem Büchermarkt? Nun ja, es gibt inzwischen auch Sportbars, in denen nicht Fußball geschaut wird, sondern Counterstrike, digitales Schießenspielen. Die Zahl der Computerspieler wächst, die Nerds von früher verdienen heute gutes Geld und geben das auch gern für ihr Hobby aus. Viele Millionen Dollar haben Menschen über die Crowdfundingplattform „kickstarter“ gesammelt, damit der Spieledesigner Chris Roberts eine Weltraumsimulation programmieren kann – in dieser Woche wurden es über 52 Millionen Dollar. Das ist ein Viertel der Produktionskosten von „Titanic“, einem der teuersten Filme aller Zeiten. Amazon versucht einfach nur mitzuverdienen. Der Buchmarkt mag heute noch spannend sein, künftig wird das Geld nicht mit Papier verdient.

Wiktor jedenfalls hätte dieser Zug von Amazon gefallen. Du musst Gelegenheiten erkennen, sagt er, als er uns Fahrkarten nach Kiew für einen Zug besorgte, der angeblich ausgebucht war. Er selbst hatte einst als Lehrer gearbeitet; als die Sowjetunion zusammenbrach, wurde er entlassen. Er fing an, mit Dingen zu handeln, die er bei Verwandten und Bekannten auftrieb. Irgendwann wurde dann ein Unternehmen draus. Bist du ein Oligarch, Wiktor? Fragten wir ihn. Er wurde dann jedes Mal ganz ernst und sagte, das sei kein gutes Wort. Er sei ein Geschäftsmann, weil er Anstand habe. Nur einmal habe jemand versucht ihn zu ermorden, es sei um Geld gegangen. Er zeigte uns die Narbe, die von einem Messer stammen sollte. Dann lachte er und sagte, seine Frau sei viel geschäftstüchtiger als er, aber er dürfe das Geld ausgeben. Und er lud uns in der warmen Abendluft Odessas zum Hummeressen ein. Es ist vermessen, an den eigenen Erinnerungen, den Bildern einer Reise als dem Bild eines Landes festhalten zu wollen. Welches Recht hat man an einem Ort, an dem man nur ein paar Wochen war? Aber für mich ist die Ukraine mehr Wiktor als die grauen Männer mit den eckigen Gesichtern, die derzeit im Fernsehen auftauchen, von Frieden reden und dabei Krieg sagen.

Gerne würde ich noch einmal eine seiner Schnurren hören. Seine Nummer habe ich. Aber er meldet sich nicht mehr.

DANIEL SCHULZ