Die Menschen werden langsam kriegsmüde

RUSSLAND Nur noch fünf Prozent der Bevölkerung befürworten eine militärische Intervention beim Nachbarn. Aber die gibt es laut offizieller Lesart ja ohnehin nicht. Präsident Wladimir Putin menschelt und fordert einen Korridor für ukrainische Soldaten

MOSKAU taz | Um 1.10 Uhr in der Früh wandte sich Präsident Wladimir Putin auf der Website des Kreml mit einem Aufruf an die Separatisten in Donezk: „Ich rufe die Aufständischen auf, für die eingeschlossenen ukrainischen Soldaten einen humanitären Korridor zu öffnen, um sinnloses Sterben zu verhindern.“ Die Soldaten waren vor einer Woche in der Nähe von Ilowaisk von prorussischen Kräften umzingelt und vom Hinterland abgeschnitten worden.

Die Antwort der „Rebellen“ folgte umgehend: Die Ukrainer werde man nur dann ziehen lassen, wenn sie die Waffen vorher niederlegten. Kurzum: Der Oberkommandierende Putin tut alles, was in seiner Macht steht. Folgen die Aufständischen dennoch nicht seinem Appell, so bestätigt sich aus Moskaus Sicht sein monatelanges Mantra: Russland ist keine Krieg führende Partei.

Unterdessen hat der kriegerische Enthusiasmus der russischen Bevölkerung etwas nachgelassen. Nur fünf Prozent befürworten noch eine militärische Intervention beim Nachbarn, ermittelte das Moskauer Institut FOM. Auch die Unterstützung für ein gewaltsames Vorgehen hat im Vergleich zu den Vormonaten um ein Drittel abgenommen.

An der psychischen Verfasstheit der russischen Gesellschaft hat sich nichts geändert, noch verharrt sie im Zustand erhöhter Mobilisierung. Anzeichen leichter Ermüdungserscheinungen sind jedoch zu erkennen. So hatte die Ökonomin Jana Tarassowa noch im Frühjahr wenig an der russischen Ukrainepolitik auszusetzen. Inzwischen wünscht sich die 32-Jährige, dass der Konflikt beigelegt wird. Zu gewinnen gebe es nichts. Und wer ist schuld? „Die Politiker auf beiden Seiten“, sagt sie kategorisch.

Für die Bankangestellten Alexei und Nikolai, 25 und 27 Jahre alt, steht der Schuldige von vornherein fest. „Die Amerikaner.“ Die beiden jungen Leute verkörpern die Generation Putin. „Wieso Krieg?“, fragt der eine. „Den gibt es doch gar nicht.“ Russland solle sich in der Ukraine nicht einmischen. Wäre jedoch die Ukraine Teil Russlands, gäbe es die „40 Millionen ukrainischen Faschisten bald nicht mehr“.

Die Rentnerin Swetlana Alexandrowa leidet an dem Krieg mit dem Brudervolk. „Wir können nur verlieren“, sagt sie. Sie sieht nur eine Lösung: der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen.

KLAUS-HELGE DONATH