BERLINER DEBATTEN ÜBER AKTUELLE UND ZUKÜNFTIGE AUFSTÄNDE
: Wo sich Revolutionen vielleicht verzweigen oder wir an ihnen verzweifeln

Alle Welt hat das Aufstandsfieber. Nur hier nicht. Warum?

VON HELMUT HÖGE

Kürzlich fanden in Berlin drei Veranstaltungen über die arabischen „Rebellen“ statt. Sie selbst nennen sich (in Libyen) „Thuwar“: Revolutionäre. Es ging darum herauszufinden, was in sie gefahren ist.

Im Haus der Kulturen der Welt diskutierten darüber einige arabische Autoren. „Die Euphorie der letzten Monate über die erzielten Erfolge waren dabei noch deutlich vernehmbar, aber zugleich auch eine gewisse Skepsis und Ratlosigkeit über die Zukunft“, bemerkte der iranische Schriftsteller und taz-Autor Bahman Nirumand, der eine Diskussion über die „eigentlichen Ziele der Aufständischen“ vermisste.

In der Heinrich Böll Stiftung fand kurz darauf ebenfalls eine Veranstaltung über den „Change“ in der Region statt. Die algerische Journalistin Ghania Mouffok äußerte dort die Befürchtung, dass die Aufständischen wieder in die Ränge der Zuschauer zurückgeschickt werden, während die alten Regime versuchen, hinter einer neuen Fassade weiter wie bisher zu machen. Dem „Westen“ warf sie vor, nur Angst vor Flüchtlingswellen, Ölpreissteigerung und einer Ausweitung des „Konflikts“ zu haben.

Am vorvergangenen Montag fand dann in der Volksbühne eine Veranstaltung der Wochenzeitung Jungle World statt, wobei es um die Frage ging: „Bomben oder Bomben lassen?“. Der Vertreter der libyschen Gemeinde Berlin war für die Bombereinsätze der Alliierten, der Vertreter der Linkspartei war dagegen, die zwei Jungle-World-Redakteure auf dem Podium argumentierten dazwischen.

Die drei Deutschen waren besonders über den Einfluss islamischer Dunkelmänner (Bruderschaften, Islamic Fighting Group, al-Quaida) beunruhigt, während der Libyer meinte, sie seien ohne Einfluss auf die Aufständischen und ihre Gegeninstitutionen. Ebenso wenig wollte er in den Kämpfen der Libyer einen Bürgerkrieg sehen: „Es ist ein Volksaufstand gegen das Gaddafi-Regime.“

Die Jungle-World-Redakteure waren sich hingegen sicher, dass es beim Engagement der Westalliierten „nicht um das Öl“ gehe. Aber auch das genügte dem Vertreter der Linkspartei nicht, der die Unterstützung der Kämpfe der Aufständischen durch die Alliierten ablehnte und deswegen auch die Entscheidung der Bundesregierung, keine Kampfflugzeuge dafür zu entsenden, richtig fand.

„Ich seh ja ein, da fehlt das Emotionale, aber ich will eine einigermaßen plausible Position hinkriegen, die auch Bestand hat“, brachte er seine Argumentation auf den Punkt. Und während der Jungle-World-Redakteur sich mit dem Tagesspiegel einig zu sein schien, dass „Libyen ein ‚Sumpf‘ “ sei, versprach der Vertreter der libyschen Gemeinde: „Wenn das Ding vorbei ist, dann werdet ihr euch wundern!“

Diese drei letzten Veranstaltungen zum allarabischen Aufstand hatten gemeinsam, dass sie zwar gut besucht waren, aber unter einem erheblichen Mangel an Begeisterung litten – vor allem im Publikum und bei den deutschen Arabien-„Experten“ sowie den Moderatoren. Es waren „Talkshows“.

Im Gegensatz zu diesen höflich absolvierten Informationsabenden über den sich ausbreitenden arabischen Aufstand zeichneten sich die bisher vier Veranstaltungen über das Manifest der Pariser Autonomengruppe Tiqqun, „Der kommende Aufstand“, durch rege Diskussionsbeteiligung aus. Wie kommt das? Während man hierzulande die Ziele der Aufständischen als eine „nachholende Entwicklung“ begreift, um ihre Länder in die Moderne (mit ihren weichen Ideologien Menschenrechte, Ökologie etc.) zu „stupsen“, wie man bei Facebook sagt (bei StudiVZ heißt es „gruscheln“), wird die postmoderne Aufstandstheorie der Gruppe Tiqqun als avantgardistisch wahrgenommen, obwohl sie nach wie vor den „harten Ideologien“ (der marxistisch-freudianistischen, Rimbaud’schen und situationistischen Zeit) verpflichtet ist. An einer Stelle schreiben sie: „Jeder Aufstand muss zu dem Punkt kommen, wo er das erzeugt, was Ilya Prigogine und Isabelle Stengers – die eine Analogie zwischen physischer und gesellschaftlicher Welt herstellen – ‚Verzweigungspunkte‘ genannt haben, also kritische Schwellen, von denen aus ein neuer Zustand des Systems möglich wird.“

Genau darum geht es bei den arabischen Aufständen. Und inzwischen auch in Kroatien: Dort hat es die „Fejsbukovci-Generation“ geschafft, dass nach zwei Monaten täglicher Proteste nun die halbe Bevölkerung „für ein neues System“ demonstriert. „Ich bin hier, damit künftig keine Regierung mehr das Volk ficken kann!“, erklärte Zeljko Banic, Sänger der Band Songkillers. Der „kroatische Frühling“ wirkt wie von dem in Arabien angesteckt. Nur hierzulande scheint man dagegen immun zu sein. Hat das was mit „Verzweiflungspunkten“ zu tun?