Heulen wie wütende Götter

Die lauteste Woche der Welt: In der Neuen Staatlichen Lärmsammlung zu Berlin

Ein verwaister Presslufthammer. Ein Ghettoblaster ohne Batterien. Jonathan Meese mit zugenähtem Mund. Überall in der Republik haben diese Motive auf den Werbeplakaten die Leute nachdenklich und neugierig gemacht. Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wozu der Lärm?

Klaglos zieht sich die Schlange der Kulturbeflissenen durchs historische Zentrum von Berlin bis vor den unscheinbaren Eingang der Neuen Staatlichen Lärmsammlung, die in einem weiträumigen Luftschutzbunker unter der Museumsinsel untergebracht ist und morgen mit einer Wanderausstellung der New Yorker Guggenheim ihre Pforten öffnet: „The Lost Art Of Making Some Noise“.

Schon in der Eingangshalle, von der Architektin Zaha Hadid einer menschlichen Ohrmuschel nachempfunden, empfängt uns ein dünner, heller, aber auch unsauberer und recht fieser Dauerton. Es handelt sich um die legendäre Klanginstallation „Tinnitus“ von Brian Eno. Sie hat 60.000 Euro gekostet und soll die Besucher mental darauf vorbereiten, was sie im Inneren dieses außergewöhnlichen Museums erwartet.

Schon im Vorfeld war heftig über das Konzept und die horrenden Kosten gestritten worden. „Mit dem Geld hätte man 1.000 neue Krippenplätze einrichten können“, rief es gewohnt populistisch aus dem Bild-Feuilleton. „Wieso wird hier heute subventioniert, was gestern erst mit Ach und Krach (!) abgeschafft worden ist?“, fragte hintersinnig die Süddeutsche Zeitung. Nur im Spiegel wurde „The Lost Art Of Making Some Noise“ bejubelt, als wär’s der neue Gedichtband von Martin Walser: „Geilomat! Spektakulatius! Irre! Mit Beutekunst!“

Tatsächlich soll in der Ausstellung erstmals auch wieder ein deutsches Sturmgeschütz zu hören sein, das die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs abmontiert nach Russland verfrachtet hatte. Wir jedenfalls sind gespannt und gewarnt, lehnen den Audioguide dankend ab und stopfen uns verstohlen die Taschen mit Oropax voll.

Ludmilla Schulze, Brille, Dutt, Kulturwissenschaftlerin, sieht das und schaltet schmunzelnd ihre beiden Hörgeräte ab: „Sie müssen sich nicht schämen!“, brüllt sie freundlich: „Wir sind den Lärm ja nicht mehr gewohnt!“ Die 35-Jährige hat diese Ausstellung kuratiert und wird uns durch die Sammlung führen: „Viele der akustischen Feinheiten und Nuancen unserer Exponate erschließen sich dem Laien erst mit Gehörschutz!“, schreit Ludmilla Schulze und drückt uns den Ausstellungskatalog in die Hand, dem jener berühmte Satz vorangestellt ist, den Robert Koch in einer stillen Minute im Jahre 1910 ausgesprochen hat: „Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.“

Ein fast 100-jähriges Crescendo anschwellender Lärmbelästigung musste die Menschheit noch über sich ergehen lassen, ehe diese Prophezeiung sich erfüllen und – nach Tabak, Alkohol und Killerspielen – endlich auch der Lärm verboten werden konnte. „Psst, Papi, was war’n das, ‚der Krach‘?“, flüstern fragend heute die Kinder, und spätestens dann sollte man sie in diese Ausstellung mitnehmen. Coole T-Shirts mit den Motiven „Schallwellenreiter“ oder „Dezibelzebub“ gibt’s für 35 Euro im Museumsshop. „Wenn wir schon andere Emissionen nicht einschränken können, dann wollen wir doch alle wenigstens still und leise untergehen, oder?“, schreit Schulze rhetorisch, auf ihrer hohen Stirn pocht eine einsame Ader.

Im ersten Raum hängen Kopfhörer von der Wand, auf denen man sich einschlägige Klassiker anhören kann. Motörhead – die „lauteste Band der Welt“. Manowar – auch die „lauteste Band der Welt“. Und Exotisches wie die längst verbotenen Melvins, deren eigentümlicher Sound im Rolling Stone mal mit dem Klang eines Kies-Sattelschleppers verglichen worden ist, „der mit defekten Bremsen eine schlaglochübersähte Bergstraße“ herunterbrettert. Gänsehaut.

Weiter geht’s durch den „Auspuff“-Trakt mit der Sonderausstellung „Der Schall und seine Dämpfer“. In einer Datenbank sind besonders laute Sound-Files für die Ewigkeit gespeichert – man bräuchte Tage, sich das alles anzuhören: infernalisches Geklapper von Kutschen auf Kopfsteinpflaster, klangtreu rekonstruiert (frühes 20. Jahrhundert, Replika, Wien); das seltsam trockene Verpuffungsgeräusch eines explodierenden Flugzeugs (spätes 20. Jahrhundert, Ramstein); das mit viel historischem Getöse einstürzende WTC, im lupenreinen Dolby-Surround-Klang (2001, New York); der authentische Im-Helm-Sound eines Autobahnritts bei Nieselregen mit 250 Sachen auf einem unverkleideten Motorrad (21. Jahrhundert; Leihgabe aus Privatbesitz). Ehrfurcht. Und Respekt davor, was die Menschen damals alles ertragen mussten.

Ludmilla Schulze schiebt uns ungeduldig durch die „Bohrer“-Abteilung mit Exponaten aus der Zahnarztpraxis oder dem Ölgeschäft weiter bis zum Herzstück der gesamten Ausstellung. Es sind die jeweils 185 Tonnen schweren Rolls-Royce/Snecma-„Olympus“-Turbojet-Triebwerke der ausgemusterten Concorde, alle vier, die hier mit eingeschalteten Nachbrennern heulend an ihren Verankerungen reißen wie wütende Götter. Halleluja! Hosenbeine flattern. Ludmilla Schulze sind die Haarnadeln herausgeflogen, mit offenen Haaren sieht sie sowieso viel besser aus. Das macht nachdenklich. Und neugierig.

Aber da ist unser Rundgang schon vorbei, das museumspädagogische Konzept voll aufgegangen. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl besoffener Betroffenheit über den unwiederbringlichen Untergang einer hoch entwickelten Lärmkultur. Schnell laden wir uns noch einen „Hörsturz to go“ auf den iPod und kehren auf Zehenspitzen zurück in unsere allzu geräuschberuhigte Welt, wo ohne Ausnahmegenehmigung keine Zeitungsseite mehr umgeblättert werden darf. Könnte ja knistern. ARNO FRANK