Der kann alles!

Prächtig zeigt der nun vorliegende Band, wie auch in der Prosa seine Maxime „hell und schnell!“ funktioniert: zu Robert Gernhardts posthum erschienenem, letztem Erzählband „Denken wir uns“

VON MICHAEL RUTSCHKY

Es ist zu traurig. Er sollte doch 100 Jahre alt werden und exemplifizieren, wie man vom Witzbold und Gagschreiber zum Weisheitslehrer wird im Lauf der Zeit, im Verfolg der Arbeit. „Unser Woody Allen!“ Dessen angestammtes, in allen Einzelheiten ausgeforschtes Soziotop halt an Stelle der großen Stadt New York die kleine Bundesrepublik samt ihrem toskanischen Ausleger wäre. Und dessen Erfolg, ja Ruhm bewiese, dass eine signifikante Abteilung der einheimischen Mittelklassen diesen Modus der ironischen Selbstbeobachtung, zu der Gernhardt in Wort und Bild anleitet, goutiert.

Vergangenes Jahr, kurz nach dem Tod, erschien ein letzter Gedichtband, der bewies – wie zuvor „Herz in Not“ (1997) sowie die K-Gedichte (2004) –, dass die von Robert Gernhardt entwickelte Schreibweise den Ernstfall besteht. Wer sich ein Arbeitsleben lang für Komik und Parodie interessiert, verfällt angesichts des Sterbens nicht in religiöse Pathosformeln – auch wenn zu ebendiesem Zeitpunkt das Feuilleton, das sorgfältig zu beobachten uns Gernhardt gelehrt hat, auf solche Formeln rattenscharf ist, die postlateinische Formlosigkeit, Sie wissen schon. (Ich muss hinzufügen, dass mein alter Freund Theckel ganz sicher ist: Gott verabscheut diese kokette Frömmelei gründlich; ein bockelharter Agnostiker ist ihm bei weitem lieber.)

Robert Gernhardts zentrale Erfindung war eine neue Rolle für den Dichter – womöglich hätte er später noch den Büchnerpreis bekommen, und die Seinen hätten jubeln dürfen: „Dichter Dorlamm erklimmt den Gipfel des Parnass!“ Denn das war die Pointe des neu erfundenen Dichtens, es behielt immer ein Moment des Parodistischen, sogar in der allerletzten Lyrik, die es direkt mit dem Tod zu tun hat. Wie sollte man, fragt sich der von Gernhardt über das Dichten und seine Reichweite aufgeklärte Bürger, durch noch so raffinierte Versformen, Reime und andere Devices damit fertigwerden? Dichter Dorlamm erhält den Nobelpreis, in diesen Dimensionen müsste man Gernhardts Erfindungen ausforschen.

Aber ich greife vor. Nein, ich greife daneben.

Vergangenes Jahr wurde mit dem letzten Gedichtband ein letzter mit Erzählungen angekündigt, und jetzt ist er da. „Denken wir uns“, die Titelformel, leitet jede einzelne Geschichte ein, denken wir uns einen Denkspieler, denken wir uns Delft zur Zeit des Vermeer, denken wir uns eine alte, aber herzensgute Frau. Die Formel legt parodistisch die Grundvoraussetzung des Erzählens bloß, „the willing suspension of disbelief“; sie funktioniert wie die bekannteste dieser Formeln: „Es war einmal …„

Wie Gernhardt auch in seiner Prosa andere Schreibweisen parodistisch ausnutzt, wir dürfen zum Abschied noch einmal zuschauen. Die philosophische Anekdote, die lehrhafte Parabel. Die Schalksgeschichte aus der Renaissance, wie der Maler Gamsbardi die Madonna von San Giovanni, durch Regenfälle beschädigt, ausbessern und zugleich den tückischen Abt austricksen muss; Norbert Gamsbart war, bemerkt Eckhard Henscheid irgendwo, der unüberholbar Schlaueste in der Corona. Das romantische Gespräch schöner Seelen, der Herren Anders, Bernstorff und Claudius, die in Frankfurt am Main regelmäßig zusammenkommen, um gemeinsam interessierende Fragen wie „mein peinlichstes Ferienerlebnis“ zu erörtern.

Ich kenne keinen Künstler, der den Künstler, wie er seit der Renaissance entsteht, so scharfsinnig beobachtet hätte wie Norberto Gamsbardi, ohne ihn gleichzeitig noch einmal zu verhimmeln. Im Kern des Künstlers west die Ruhmsucht; der Dichter will nicht schreiben, gestalten, erfinden, er will veröffentlichen und gelobt werden, bis es kracht. Der Glanz im Mutterauge, den nach Belieben hervorzurufen das begabte Kind nicht aufhören kann, wie der Roman „Ich Ich Ich“ (1982), den viele als Erweckungserlebnis feiern, erzählt; das Triptychon „Glück Glanz Ruhm“ (1983) – wie Norbert Gamsbart im Brief an eine theure Freundin die Frankfurter „Taverne Wachtelstubb“ als Wunderkammer der abendländischen Kunstgeschichte dechiffriert, das muss jeder einschlägig Interessierte gelesen haben –, bis hin zu mehreren Stücken dieses letzten Bandes, immer wieder hat Robert Gernhardt die süßeste Komik, die schärfsten Einsichten aus Reflexionen auf Kunst und Künstler gewonnen. Ja, Dichter Dorlamm will unbedingt den Parnass erklimmen; Kunst handelt stets von Macht, deshalb muss man sie profanieren. Spätere Intelligenzbestien werden hier vielleicht substanzielle Korrespondenzen mit der Ersten Frankfurter Schule, der ästhetischen Theorie Adornos entdecken, Gott befohlen, hier trete ich nicht ein. Stattdessen die letzten Worte eines Schriftstellers von 68 Jahren in der letzten Erzählung des letzten Bandes, die Bilanz: „Oh – ich sehe keinen Grund, unzufrieden zu sein. Ich habe eine von mir geliebte Frau, einen von vielen geachteten Beruf und eine von vielen gefürchtete Krankheit – mehr kann man vom Leben eigentlich nicht verlangen.“

Ursprünglich sah der Künstlerroman, dem Gernhardt folgen wollte, viel konventioneller aus. Er hat ja Malerei studiert – und der Band „Innen und außen“ (1988), in dem das Lesepublikum seine Bilder bestaunen durfte (samt einem wohlinformierten Essay) erregte neulich bei einer jungen Künstlerin, der ich ihn vorlegte, Verblüffung (während ein gleichaltriger Kunsthistoriker vor Jahren nur den Kopf schüttelte). „Eigentlich sollte ich vor der Staffelei sitzen und malen“, lautete der erste Satz von „Ich Ich Ich“, „das wäre die einzige Tätigkeit, die mich jetzt noch retten könnte.“ Ein Satz, den in den verschiedensten Varianten ein jeder kennt.

Stattdessen Pardon, von der man seinerzeit noch nicht wissen konnte, dass die Zeitschrift einer der bedeutenden Akteure der westdeutschen Kulturrevolution würde, sowie Titanic. Cartoons, Satiren, „Schnuffis Abenteuer“, komische Verse: journalistische Arbeiten von avantgardistischer Qualität, die Harald Schmidt ebenso wie Olli Dittrich antizipierten. Im Rahmen der inoffiziellen Trauerarbeiten las ich noch einmal die gesammelten Satiren nach („Letzte Ölung“, 1988): hat sich alles prima gehalten; vor allem ist zu bewundern, wie seine Intelligenz es Gernhardt erspart, in die Falle des Konservatismus zu gehen, die jeder Satire droht. Im Namen einer eingelebten Sittlichkeit den neumodischen Kram bitter verhöhnen (ein besonders ekliges Beispiel bietet Erich Kästners Tirade gegen die „sogenannten Klassefrauen“, die noch in den Fünfzigern gern zitiert wurde). Als ebenso avantgardistisch erweist sich das Genre, das er geradezu erfunden hat, die Humorkritik („Was gibt’s denn da zu lachen?“, 1988). Hier lagen ja keine Prunkzitate bereit, seit Aristoteles gilt Komik als …, hier musste man Aufbauarbeit leisten, was umso leichter/schwerer fiel, als der Kritiker aus der Produktion kam und immer wieder in sie zurückkehrte. Als Gernhardts Prosa haben wir, will ich sagen, nicht nur die Belletristik im engeren Sinn zu würdigen.

Es verhält sich wohl so, dass Dichter Dorlamm ab einem bestimmten Zeitpunkt seine Arbeit auf die Lyrik konzentriert hat. Beinahe klassische Stories, wie sie in „Kippfigur“ (1986) und in „Lug und Trug“ (1991) zu lesen sind, gab’s dann nicht mehr – ach, diese herzzerreißende Geschichte von dem braven Sohn, der seine kluge alte Mutter in Tübingen besucht und vorgeblich an einem Romanmanuskript arbeitet, das in Wahrheit eine Porno-Übersetzung ist … Oder als Witte seinem Freund Mangold – beide Ableger von Anders, Bernstorff und Claudius (oder umgekehrt) – erzählt, wie ihm seine junge Liebste bei einem italienischen Volksspektakel infolge Harndrangs abhanden kam …

Nein, mit diesen nahezu klassischen Storys nimmt es der letzte Band von Gernhardts Prosa nicht auf; das wäre ja noch schöner, wenn der Tod ein literarisches Werk vollenden dürfte. Prächtig zeigt der Band, was Gernhardt auch in der Prosa so alles konnte, wie seine Maxime hier funktioniert, „hell und schnell!“. Gäbe ich Unterricht in Creative Writing, ich nähme das Buch als Lehrstoff.

Im Übrigen dringt der Lauf der Zeit auf gesammelte Schriften, die ihn, wie Texte das können, gegenwärtig halten, obwohl er weg ist. 1984 hatte ich die Ehre, ihn öffentlich zum bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart ausrufen zu dürfen, neben Eckhard Henscheid, und beide zu legitimen Nachfolgern von Horkheimer und Adorno – „und davon habe ich kein einziges Wort zurückzunehmen!“. Gernhardts Vielseitigkeit, sein Einfallsreichtum, seine Kenntnisse, sein Fleiß, seine Intelligenz, sie sind ein Exempel und ein Vergnügen.

Aber er ist weg. Uns bleibt nichts, als uns (mit Oliver Maria Schmitt in seiner Trauerrede) für unseren weiteren Lebensweg alles Gute zu wünschen, denn wir müssen ihn ohne Robert Gernhardt gehen.

Robert Gernhardt: „Denken wir uns“. Fischer, Frankfurt am Main 2007. 240 Seiten, 18,90 €