GEORG LÖWISCH UNBELIEBT
: Macht und Tränen

Claudia Roth macht sogar Grüne wütend. Doch niemand war so lange Grünen-Chefin wie sie. Zeit für einen Besuch

Das Markenzeichen der Politikerin Claudia Roth sind ihre Tränen. Als sie 1999 in den USA ein Gnadengesuch für zwei Todeskandidaten einlegte und die beiden doch hingerichtet wurden, weinte sie öffentlich. Sie weinte auch später. In einer Sitzung des Parteirats liefen die Tränen, bei anderen Gelegenheiten schniefte sie hörbar.

Aber gerade heute geht es ihr gut. Sie läuft durch ihr Bundestagsbüro auf mich zu, eben hat sie mit Stuttgart telefoniert. Sie behält das schwäbische isch noch ein bisschen in ihren Sätzen, denn im Südwesten sind die Grünen erfolgreich wie nirgendwo sonst, und sie kommt aus Ulm. Ich stamme immerhin aus Baden, und da hier alles so überschwänglich ist, riskiere ich einen badischen Satz. Da unte laufts gut für Sie. Sie schaut mich entgeistert an. Spinnst du, Kleiner?

Ich wollte nur nett sein. Denn ich habe immer zu denen gehört, die Claudia Roth peinlich fanden, seit sie 2001 Parteivorsitzende wurde. Die ewige Lederjacke. Die Geschichten von Ton Steine Scherben, deren Managerin sie war. Die Tränen. Alles ganz schön dicke.

Aber nun haben wir dummerweise schon 2011 und ich muss wohl zugeben, dass ich sie unterschätzt habe. Denn sie ist immer noch Chefin, niemand sonst in den Doppelspitzen von Partei und Fraktion hat so lange durchgehalten. Wer ist abgestiegen, Kuhn oder sie? Wer nach Brüssel abgedampft, Bütikofer oder sie? Wer hat jetzt die größere Fallhöhe, Künast oder sie? Wer hat mehr Gewicht, Özdemir oder sie? Wer war noch mal Antje Radcke? Und diese Gunda?

Wenn sie erzählt, liegt in ihrer Stimme die Gelassenheit der Unverrückbaren. Der Seniorchefin, die ihre tüchtigen Ingenieure vorstellt. Jürgen, Renate, Cem. „Vielfalt ist unsere Stärke. Ich freue mich, wenn das auch in den Medien so rüberkommt.“

Den Erfolg verdankt Claudia Roth ihrem Tränenkonzept. Sie verfolgt es mit Konsequenz. Man kann sie nach allem Möglichen fragen, nach Netzwerken, Strategien, Mechanismen. Aber sie redet von Leidenschaft, Moral und schlaflosen Nächten. Gerade erzählt sie von der Zeit, als Rot-Grün im Bund regierte. „Schröder hat mal in einem Interview erzählt, dass ich vor ihm geheult hätte.“

Stimmt das denn?

Sie kalkuliert. Passt das in ihr Konzept? Positiv.

„Ja. Das waren Wuttränen.“

Leidenschaft, Kämpferin, Herz – manche mögen das. Sie lassen sich von den Grünen gern das Gewissen beruhigen, da sollen auch schon mal ein paar Tränen kullern. Andere ärgert es, und Parteifreunde werden zuweilen seltsam wütend, wenn sie über Roth sprechen. Vermutlich, weil sie den Tränen nichts entgegensetzen können. Ist ja auch schrecklich, einer weinenden Frau etwas abzuschlagen.

Mit dem ganzen Wasser kann Roth eine weitere Stärke verdecken: Härte. Gleich am Anfang ihrer Zeit hat sie durchgedrückt, dass sie Parteichefin und trotzdem Abgeordnete sein darf. Sie zwingt sich zu unzähligen Live-Auftritten, weil die Bindungen herstellen und Loyalitäten. Sie dringt zielgerichtet in die Sphären der Volksparteien ein. Schlüpft ins Dirndl. Sitzt sogar in Beiräten des Deutschen Fußball-Bundes, den sie „NGO“ nennt.

Wenn andere Grüne erklären, warum Roth eine Sache tut, warum sie parteiintern etwas attackiert oder blockt, dann nennen sie gern Eifersucht oder Kränkungen. Als wären Gefühle ihre einzige Kategorie. Dabei schaut sie einfach, wo sie bleibt. An der Spitze.

Der Autor leitet die sonntaz-Redaktion Foto: Wolfgang Borrs