Eine Kirche voller Konfessionen

Bremens Protestanten sind eine Spezies für sich. Sie sind basisdemokratischer als alle anderen und ökonomisch ziemlich erfolgreich. Jetzt haben sie einen neuen „theologischen Leiter“ gewählt

In Bremen (Stadt) leben 242.386 Protestanten. Die Bremerhavener Protestanten muss sich Renken Brahms als neuer theologischer Leiter mit den Kirchenoberen in Leer und Hannover teilen – eine Folge wechselnder Gebietshoheiten. Nur die etwa 6.000 Angehörigen von Bremerhavens ältester Gemeinde an der Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche müssen künftig auf Brahms’ theologische Ratschläge Rücksicht nehmen. Grundsätzlich gilt in der Bremer Evangelischen Kirche ohnehin „Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit“.  HB

Von HENNING BLEYL

Bremen hat einen neuen Bischof – falsch, völlig falsch. Die BremerInnen haben den letzten bei ihnen residierenden Amtsinhaber vor 496 Jahren aus der Stadt gejagt. Also so: Die Bremer Evangelische Kirche (BEK) hat einen neuen Schriftführer. Das klingt zwar nach Kassenwart, meint aber den Mann, der in der BEK inhaltlich am meisten zu sagen hat. Wobei „am meisten“ wiederum recht relativ ist, weil es sich bei der BEK um Deutschlands basisdemokratischste Landeskirche handelt.

Deren gestern gewählte theologische Spitzenkraft heißt Renken Brahms. Der 50-Jährige spielt gern Basketball, arbeitet bislang als Religionspädagoge beim evangelischen Kindergartenverband und findet es völlig in Ordnung, niemals ein nomineller Kirchenfürst zu sein. In der Nazi-Zeit gab es in Bremen einen selbst ernannten „Bischof“ (der wurde von den BremerInnen leider nicht verjagt, musste seinen Stuhl aber wegen unsittlichen Verhaltens räumen), von daher gilt der Titel als historisch verbrannt. Noch wichtiger ist für Brahms: „Die Bremer Kirche ist von unten nach oben aufgebaut, das soll auch so bleiben.“ Der Schriftführer ist lediglich für die Ordinierung der PastorInnen zuständig, sowie für die „geistliche Vertretung“ der BEK nach außen.

Ein Unikum in Deutschland ist die in Bremen übliche freie Gemeindewahl. Statt nach Wohnort, kann sich jeder Bremer Evangele eine Gemeinde seiner Wahl suchen – also etwa die evangelikal geprägte von Jens Motschmann, Gatte der höchst umstrittenen christdemokratischen Kulturstaatsrätin, oder die liberale Friedenskirche, in der Johann Kresniks skandalisiertes Theaterstück „Die zehn Gebote“ Asyl fand. Das wurde, der Nacktszenen wegen, aus dem Dom verbannt – zu dem natürlich auch viele gehören wollen. Die Stärke der BEK ist also ihre Offenheit. Alle anderen 20 deutschen Landeskirchen sind entweder lutherisch, reformiert oder (als Synthese) „uniert“, also konfessionell festgelegt.

Brahms wird diese Vielfalt verteidigen müssen. Innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) wird heftig um Strukturvereinfachungen gerungen, das EKD-„Impulspapier“ stellt explizit die Auflösung kleinerer Landeskirchen zur Diskussion. Nichtsdestotrotz sieht Brahms seine Kirche als Modell: „Gerade mit unserer besonderen Verfassung können wir ein Beispiel für die anderen sein, wie man die notwendigen Veränderungen gemeinsam bewältigen kann.“

In der Tat ist die BEK organisatorisch und finanziell gut aufgestellt – notgedrungen. Schon Anfang der Neunziger, früher als die anderen Landeskirchen, kümmerte sich die BEK um Gemeindezusammenlegungen beziehungsweise Kooperationen und straffte den Personalschlüssel. Hintergrund war ein Steuerschock: Ähnlich wie das Land Bremen leidet auch die BEK am Umstand, dass zahlreiche ArbeitnehmerInnen im niedersächsischen Umland wohnen. Deren vom Bremer Finanzamt eingezogene Kirchensteuern mussten nach einem „Clearing“-Verfahren in viel größerem Umfang als eingeplant an die Hannover’sche Landeskirche überwiesen werden.

Seitdem aber hat sich die BEK auf einen sehr ernst gemeinten Reformkurs begeben, der Haushalt ist mit 60 Millionen Euro bemerkenswert stabil, derzeit wird die enge ressourcenmäßige Verzahnung von knapp zwanzig weiteren Gemeinden vorangebracht. Kirchen selbst sollen dabei nicht geschlossen werden – so lange es geht. Ein markantes Gotteshaus in der Innenstadt wurde jetzt mangels Gemeindemasse versuchsweise zur „Kulturkirche“ umgewidmet. Ob die Not damit zur Tugend geworden ist, wird sich am Ende der auf vier Jahre angesetzten Projektphase erweisen.

Brahms’ theologisches Einzugsgebiet umfasst 65 Gemeinden. Von der im EKD-Papier geforderten „Erhöhung der Taufquote“, also die Fortführung des alten Missionsgedankens mit Managementvokabeln, hält er wenig – nichtsdestotrotz wird er seine Gläubigen mit allen Möglichkeiten mehren müssen. Während die katholische Kirche, die in Bremen lange ein Diaspora-Dasein führte, langsam, aber stetig wächst, sterben jährlich an die 3.000 ProtestantInnen – und nur 1.800 wurden beispielsweise 2005 getauft. Bei den Ein- und Austritten bleibt ebenfalls ein negatives Schäfchen-Saldo von jährlich 500, wobei die Austrittsmarge immerhin nicht steigt.

Auf Brahms wartet noch eine andere große Aufgabe: Er muss den Evangelischen Kirchentag beherbergen. In zwei Jahren findet das evangelische Mega-Ereignis erstmals in Bremen statt, bislang galt die BEK als potenzielle Gastgeberin für rund 100.000 Mitchristen offenbar als überfordert. Jetzt steht die Bewährungsprobe an.