„Der Geist ist maßgeblich“

ORANIENPLATZ Das Abkommen bindet den Senat, sagt Jurist Fischer-Lescano

■ ist ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität in Bremen. (taz)

taz: Herr Fischer-Lescano, ein neues Gutachten sagt, das Abkommen zum Oranienplatz zwischen Senat und Flüchtlingen sei ungültig, weil der zuständige Innensenator nicht unterschrieben hat, sondern die Integrationssenatorin. Was sagen Sie dazu?

Andreas Fischer-Lescano: Die Argumentation ist zwar nicht von vornherein abwegig, aber sehr zynisch im Hinblick auf die Situation der Flüchtlinge. Die einschlägigen Rechtsnormen sagen zwar, dass die Zuständigkeit einer Behörde Voraussetzung dafür ist, dass eine Zusicherung wirksam wird, aber gemeint ist hier die Behörde als solche – und das ist der Senat als Ganzes. Die Bürger und die betroffenen Flüchtlinge wissen ja gar nicht, wer im Senat für was zuständig ist. Das wissen die Mitglieder des Senats ja offenbar teilweise selbst nicht mit letzter Sicherheit. Deshalb darf man es den Flüchtlingen auch nicht zur Last legen, wenn sie eventuell mit dem Falschen verhandelt haben. Der Senat als solcher ist an die Zusicherung der Senatorin Kolat gebunden.

Wieso streitet das Innensenator Henkel eigentlich ab? Senatorin Dilek Kolat hat ja nicht viel zugesichert.

Ja, das Papier spricht nur von einer „Prüfung der Einzelfälle“. Aber natürlich war damit vor dem Hintergrund der Verhandlungen die Zusicherung gemeint, dass Berlin alle möglichen Ermessensspielräume und rechtlichen Möglichkeiten ausschöpft, um die Personen in sichere Aufenthaltslagen zu überführen.

Aber das steht so nicht im Abkommen drin.

Nicht explizit, aber jede vertragliche Formulierung ist im Lichte der Verhandlungen auszulegen. Und alle Verhandlungsprotokolle und -vermerke, die mir vorliegen, lassen nur den Schluss zu, dass man das so interpretieren muss. Das ist ja auch die Voraussetzung dafür gewesen, dass der Platz von den Flüchtlingen geräumt wurde. Wenn man nichts zugesichert hätte, dann hätte es der ganzen Vereinbarung gar nicht bedurft – denn diese Einzelfallprüfungen finden ja sowieso statt.

Also um ein Abkommen zu verstehen, muss man den „Geist des Abkommens“ kennen?

Natürlich. Das ist sogar maßgeblich. Der Geist, der Verlauf der Verhandlungen verdichtet sich am Ende in einer Textzeile – um die zu verstehen, muss man also diesen Kontext kennen und einbeziehen. Das ist bei jedem Vertrag so. INTERVIEW: S. MEMARNIA

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