„Laut brummen die Motoren …“

Die lauteste Woche der Welt: Anruf eines Stau-Dichters in der Wahrheit-Redaktion

Ein ganz normaler Tag in der Wahrheit. Die Agenturticker quillen über von aufregenden Geschichten. Die Witze fließen den wie immer gut gelaunten Redakteuren nur so in die Finger. Die Produktion steht – jedenfalls fast. Kurz vor Redaktionsschluss klingelt das Telefon. Eilig greift der Wahrheit-Redakteur zum Hörer.

Wahrheit, Guten Tag!

Guten Tag, Ellenwanger. Spreche ich da mit der Wahrheit?

Ja. Wer ist da?

Ellenwanger. Mein Name ist Hans-Rainer Ellenwanger.

Wie viele sind das denn?

Ja, äh … – ich.

Ja und?

Ich bin Wahrheit-Leser und habe da ein Gedicht für Sie.

So, so, ein Gedicht …

Ja, ein frisches Gedicht. Ganz neu. Extra für Sie gemacht.

Aha …

Ja, ich bin hier vor Hannover auf der A2 im Stau und …

Sie sind vor Hannover?

Ja, auf der A2. Im Stau. Da hatte ich Zeit. Und wenn Sie wollen, können sie es sofort drucken.

Was drucken?

Na, das Gedicht!

Welches Gedicht?

Also ich diktiere Ihnen das mal. Haben Sie einen Stift?

Einen Stift?

Ja, sonst können Sie das Gedicht ja nicht aufschreiben.

Aber ich kann doch jetzt nicht …

Hören Sie, ich verstehe Sie gerade ganz schlecht. Hier ist wohl ein Funkloch. Ich diktiere mal einfach los: „Laut brummen die Motoren / laut summen die …“

Herr Wanger, hallo, hören Sie?

Ja, ich höre Sie, mein Name ist Ellenwanger. Wie Ellen und Wanger. Hans-Rainer Ellenwanger.

Herr Ellenwanger …

„Laut brummen die Moto …“ Was? Wie bitte? Was ist los? Kommen Sie nicht mit? Soll ich langsamer diktieren?

Herr Ellenwanger, worum geht es überhaupt in dem Gedicht?

Hallo, hallo? Dieses Scheißfunkloch! Was ist los? Worum es in dem Gedicht geht?

Ja, in Ihrem Gedicht.

Ich … auf dem Weg … Köln …

Köln? Ich denke, Sie sind da gerade in Hannover?

Ja, ich bin hier bei Hannover auf der A2 im Stau. Das heißt, jetzt geht es gerade weiter. Endlich! Ich habe mich ganz schön gelangweilt in der letzten Stunde. Eine Stunde Stau! Zum Glück ist mir das Gedicht eingefallen: „Laut brummen die Motoren …“

Herr Ellenwanger, telefonieren Sie da mit dem Handy?

Was? Handy? Nein? Ja! Ich spreche frei. Sie können gleich mitschreiben. Ich habe sofort an Sie gedacht, als mir das Gedicht eingefallen ist. Sie machen doch gerade diese „lauteste Woche der Welt“? Oder nicht? Oder was?

Doch, doch.

Moment, hier kommt gerade eine Baustelle, und ich habe 180 Sachen drauf. Wissen Sie, das ist gar nicht einfach, gleichzeitig telefonieren und dichten und Auto fahren. Und das mit 180. Ich muss ja noch nach Köln zu einem wichtigen Termin.

Zu was für einem Termin?

Ich bin Psychiater. Also von Beruf. He, du Scheißholländer! Diese Lastwagenfahrer werden auch immer dreister. Den habe ich erst mal ausgebremst!

Herr Ellenwanger …

Jetzt habe ich gar keine Zeit mehr, mit Ihnen zu sprechen. Machen Sie doch bitte in der Praxis einen Termin bei meiner Assistentin aus. Nehmen Sie inzwischen zwei von den grünen Pillen morgens und abends. Aber nur zwei. Und wenn ich dann zurück bin, kommen Sie vorbei und wir besprechen Ihr Problem in Ruhe. Ich kann jetzt nicht mehr: Der Verkehrslärm ist einfach zu laut. Auf Wiederhören.

Auf Wiederhören. Danke für den Anruf, Herr Ellenwanger.

Gern geschehen.

MICHAEL RINGEL