Der Himmel über dem Meer

POSTMIGRANTISCHES THEATER „On my way home“ im Ballhaus Naunynstraße ist ein Stück der Suche nach dem Gefühl des Zuhauseseins

Plötzlich sind die Möwen da, flattern auf allen vier Wänden der Videoprojektion im Ballhaus Naunynstraße. Das Publikum, an allen Seiten platziert, sieht sich vom Wasser des Hafens, den Hochhäusern an der Küste und dem weiten Himmel darüber umgeben. Ein Bild des Fernwehs, in das Benjamin Krieg, Bildautor in der Produktion „On my way home“, in diesem Moment eintauchen lässt.

Auf dem schmalen Bühnensteg vor den Bildern ist gerade ein Dialog gelaufen. Hakan fragt Sonja, die mit 40 Jahren ihr erstes Kind bekommen hat: Hilft dir das, dich endlich angekommen zu fühlen? Du wolltest doch lange keine Kinder, weil deine eigene Kindheit so unglücklich war, ständig pendelnd zwischen Griechenland und Deutschland. Und Sonja beantwortet seine peinigenden Fragen; zählt tapfer noch einmal auf, wie oft sie in der Kindheit sich zu Verwandten abgeschoben fühlte, die Schule wechseln musste, Geschwistern helfen musste, wieder getrennt wurde. Keine Aussicht auf Geborgenheit.

Die Schauspielerin Eva Bay spielt das mit der Souveränität einer Frau, die das Gefühl der Verlassenheit endlich überwunden hat. Dann aber hört man, während die Möwen weiter ihre Kreise ziehen, den O-Ton der Frau, auf der die Bühnenfigur Sonja beruht. Das Erzählen fällt ihr schwer, die Entscheidung für ein eigenes Kind wirft jeden Tag wieder Fragen auf. Sie würde gerne alles richtig machen, die Fehler vermeiden, die zwischen ihr und ihren Eltern als nie auflösbarer Vorwurf standen. Und denkt doch auch: Alles richtig machen geht gar nicht, wenn man so viel Last von früher mit sich schleppt.

Hakan Savas Mican, Autor und Regisseur am Ballhaus Naunynstraße und am Gorki-Theater, hat selbst eine Geschichte der vielen Wechsel und Brüche hinter sich. Die Angst, sich nie befreien zu können von der Rastlosigkeit, vom Mangel an Geborgenheit, von unausgesprochenen Vorwürfen an die Eltern, die doch, als Arbeitsmigranten unterwegs, immer von einer besseren Zukunft für ihre Kinder träumten, treibt ihn um. Sie lässt ihn reisen und reden, Material sammeln über Geschichten von Pendelkindern und ihr Erwachsenenleben Jahrzehnte später. Dass in der szenischen Installation „On my way home“ nur ein kleiner Teil des Materials ausgebreitet wird, spürt man.

Der Abend bietet einen Blick in einen unabgeschlossenen Prozess. Es ist gut, dass neben den nachgespielten Gesprächen die Originalstimmen der Interviewpartner stehen, die viel mehr davon transportieren, wie schwer den Familien die Gespräche über ihre Entscheidungen fallen, als sie sich aufmachten, in einem anderen Land zu arbeiten.

Hakan Savas Mican traf bei seinen Recherchen auch auf Leute, die zu seinem großen Erstaunen nicht unter den zahlreichen Brüchen in ihrer Biografie leiden. Die sich und anderen sagen: „Du bist kein Opfer. Jeder hat eine Wahl“, und sich dafür entscheiden, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Hakan, der von dem Schauspieler Dejan Bucin gespielt wird, kann ihnen nicht recht glauben, er kann sich nicht vorstellen, dass möglich ist, was sie behaupten. Aber er hört ihnen zu.

Die Geschichten, die Mican gesammelt hat, sind nicht unbedingt neu. Aber wie er hier darüber nachdenkt, wie sehr man sein Leben lang von den Entscheidungen der Eltern geprägt ist und wo man sich davon befreien kann, das bringt die Diskussion ein bisschen voran. Es hat fast etwas von einem Appell an eine Generation von Migrantenkindern: Räumt mit dem Schweigen und der Angst vor Vorwürfen in den eigenen Familien auf. KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Wieder am 4./5./8./9. Sept., 20 Uhr, im Ballhaus Naunynstraße