: Die Renaissance der Hybriden
Rhabarber wurde von Sprachfreunden prämiert, als Medizin angewandt, juristisch zum Obst erklärt. Weil „sauer“ wieder angesagt ist, wird er kulinarisch als Gemüse wiederentdeckt, das zu Schmorgerichten, Fisch und Nudeln passt
VON LARS KLAASSEN
Der Rhabarber ist nicht nur ein gern gesehener Saisongast in vielen Küchen. Er beschäftigt Botaniker, Mediziner, Juristen – und begeistert auch Freunde der Sprache: „Rhabarbermarmelade“ wurde auf Platz fünf der schönsten Worte des Jahres 2004 gewählt. Frank Niedermeyer hatte das Wort mit folgender Begründung vorgeschlagen: „Was für ein Klang! Und welches Wohlgefühl umfängt mich, wenn ich sonntagmorgens zu meinem Schatz sagen kann: ‚Barbara, reich mir doch bitte die Rhabarbermarmelade.‘ – Der Tag ist gerettet.“
„Rhabarber, Rhabarber“, deklamierten bereits im 19. Jahrhundert Statisten am Theater aus dem Off, um Schlachtengetümmel oder das kakofonische Geraune einer großen Menschenmenge zu suggerieren. Heutzutage wird inhaltsleeres Gerede statt mit „Blabla“ oft mit „Rhabarber, Rhabarber“ kommentiert. „Das hat lautmalerische Gründe“, erklärt Ekkehard König, Linguist an der Freien Universität Berlin. „Die ungewöhnliche Abfolge der Vokale klingt nach unverständlichem Wirrwarr. Dreimal hintereinander ein a, das gibt es nur in wenigen Wörtern.“ „Barbara“ ist ein weiteres und „Marmelade“ zumindest schon nah dran.
„Rhabarber“ klingt nicht nur unverständlich, sondern bedeutet auch etwas Ähnliches. Das Wort stammt aus dem Griechischen. Es ist aus den Bestandteilen rha und barbaros zusammengesetzt. Letzteres bezeichnet Fremdländisches: die Barbaren, deren Sprache die Griechen nicht verstanden. Rha hieß in der Antike die Wolga. Von dort bezogen die Hellenen das fremdländische Gewächs. Ihren Ursprung hat die Pflanze noch weiter im Osten. Sie kommt aus Tibet und der Mongolei. Wie die Urform des heutigen Rhabarbers aussieht, ist unbekannt. Wahrscheinlich hat er mehr als nur einen Ahnen. Die heutigen Arten sind allesamt Hybriden. Die erste uns bekannte Beschreibung stammt aus China, aus der Zeit um 2700 vor unserer Zeitrechnung. Der chinesische Gelehrte Suie nannte die Pflanze ein medizinisches Kraut. Und das ist sie in Teilen bis heute. Ihre Wurzeln werden zur Behandlung von Magen-Darm-Erkrankungen und als Abführmittel genutzt.
Erst im frühen 17. Jahrhundert entdeckten englische Botaniker, dass die Pflanze nicht nur „gegen die Verhärtung des Leibes“ wirkt, sondern auch als Lebensmittel genossen werden kann. Doch das gilt nicht für alle Teile der Pflanze. Irrtümlich empfahlen die kulinarischen Pioniere, die Blätter wie Spinat zuzubereiten. Sie besäßen einen säuerlichen, aber feinen Geschmack. Noch 350 Jahre später findet sich im französischen „Dictionnaire de l’Académie des Gastronomes“ dieser bedenkliche Hinweis. Rhabarberblätter, vor allem die Blattspreiten, sind wegen ihres hohen Gehalts an Oxalsäure erwiesenermaßen ungenießbar. „The Oxford Dictionary of Food Plants“ berichtet sogar von Todesfällen.
Das hat der Pflanze zeitweise einen schlechten Ruf eingebracht. Zwar zählt Rhabarber neben Spinat, Mangold und Roter Bete zu den oxalsäurereichen Gemüsearten, aber akute Vergiftungen sind nicht zu befürchten. Bei den Stängeln – und etwas anderes von der Pflanze wird heute nicht verzehrt – ist Entwarnung angesagt. Es geht nicht ums Überleben, sondern um den guten Geschmack. Für den ist entscheidend, dass die Stängel frisch sind. Ähnlich wie beim Spargel sollte unten ein wenig Saft herauslaufen, wenn man draufdrückt. Außerdem ist es ein gutes Zeichen, wenn die Stängel Glanz haben. Bei so viel Frische verwundert es nicht, dass der Rhabarber eine Renaissance erlebt – etwa mit Fenchel und Fisch. Das ist nicht nur frisch, sondern auch leicht und gesund. All das Vitamin C und K sowie die Mineralstoffe Kalium und Calcium, die Rhabarber enthält, machen das Gemüse ohnehin schon wellnessverdächtig. Noch dazu ist das Gewächs kalorienarm – es besteht zu 95 Prozent aus Wasser.
Trotz des vielen Wassers ist Rhabarber vielfältig. Man unterscheidet drei Sorten. Am sauersten ist die grünstielige Sorte mit grünem Fleisch, weniger sauer die rotstielige Sorte mit grünem Fleisch. Die beliebteste Sorte ist die rotstielige mit rotem Fleisch. Sie schmeckt schon fast himbeerartig – und lässt sich gut italienisch interpretieren: Die Stangen, in die gleiche Länge wie Spaghetti geschnitten, werden roh mariniert und mit den Nudeln vermischt. Dazu passen Scampi, Hummer oder schwarzes Olivenpesto.
Das Knöterichgewächs ist mit dem Sauerampfer verwandt und ist daher botanisch eigentlich ein Gemüse. Die Stängel werden aber traditionell als Kompott, begleitet von Soßen oder Konfitüren, ähnlich wie Früchte zubereitet. Warum nicht gleich ein Mix aus Obst und Gemüse, etwa Langustinensalat mit Blutorangen und Roter Bete? Solche Grenzverwischungen hatten in den USA 1947 lebensmittelrechtliche Konsequenzen. Ein Gericht im Bundesstaat New York hat den Rhabarber juristisch zum Obst erklärt, weil er als solches auch verzehrt werde.
Daran ist wiederum die Oxalsäure schuld: Nach dem Verzehr von Rhabarber fühlen sich die Zähne oft stumpf und pelzig an. Die Säure bildet mit dem Calcium der Zähne ein unlösliches Calciumoxalat und bleibt an ihnen haften. Milchprodukte, wie Vanillesoße oder Eiscreme, verhindern diesen Effekt, weil sie viel Calcium enthalten. Aber auch Zitronensaft oder Wein wirken mildernd. Ihre Säuren binden die Säure des Rhabarbers. Von April bis Ende Juni ist hierzulande die Hauptsaison des Gemüses. Eine Bauernregel besagt, dass Rhabarber – wie auch Spargel – ab Johanni, dem 24. Juni, nicht mehr geerntet werden soll. Das hat nichts, wie oft irrtümlich angenommen wird, mit zu hohem Oxalsäuregehalt zu tun. Die Pflanze, die auch in frostigem Boden überwintern kann, muss sich regenerieren.
Nicht nur als Pflanze auf dem Feld, auch als Gemüse in der Küche ist Rhabarber sehr sensibel. Wird er zu lange gegart, zerfallen die Fasern. Auch deshalb wird er so häufig zu Kompott verarbeitet. Aber es geht auch anders, etwa mit warmem Salat von Rhabarber, Mangold und Zitrone zur Ochsenbacke. Der spritzige Rhabarber ist eine Beilage, die dem Schmorgericht etwas entgegensetzt. Ein Klassiker aus Frankreich, der heute umstritten ist: die Kombination von Rhabarber mit Gänsestopfleber.
Wer sich in der eigenen Küche dem Rhabarber widmet, muss zunächst Blattansatz und Stielende abschneiden und die Stängel zerkleinern. Sehr faserige Stiele sollten auch geschält werden. In ein feuchtes Tuch eingeschlagen hält sich Rhabarber nur wenige Tage im Gemüsefach des Kühlschranks. In Stücke geschnitten oder als Kompott kann er problemlos eingefroren werden. Er wird niemals roh verzehrt. Es empfiehlt sich, die Stangen in kochendem Wasser kurz zu blanchieren (das Wasser wird anschließend weggeschüttet). Das reduziert den Gehalt der Oxalsäure und hilft Zucker sparen. Für Kompott wird der Rhabarber in etwas Wasser und Zucker etwa drei bis sechs Minuten gedünstet. Beim Kochen sollten keine Aluminiumgefäße verwendet werden – wegen der Säure. Die Töpfe verfärben sich sonst, und der Rhabarber bekommt einen unangenehmen Nebengeschmack. Gut geeignet sind Emaille- und Edelstahltöpfe.
An der Säure lag es auch, dass der Rhabarber zwischenzeitlich kaum in Töpfe und auf Teller kam. Die widerstandsfähige Pflanze war bis in die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein fester Bestandteil vieler Schreber- und Gemüsegärten. Dann kam sein säuerlicher Geschmack aus der Mode. Erst in den vergangenen Jahren hat das Gemüse wieder Einzug in die Gourmetküche gehalten – ohne dabei gleich wieder zum Obst gemacht zu werden. Über altbekannte Erdbeer- und Kompottrezepte hinaus findet der zwischenzeitlich aus der Mode gekommene Rhabarber auch in völlig neuen Variationen seinen Weg in die Restaurants und in die Hobbyküchen.