„Der Traum von Europa ist Gleichheit“

Wenn Völker mit einer demokratischen Tradition das Gefühl von Ohnmacht haben, dann lehnen sie ab, was dieses Gefühl auslöst. Aus diesem Grund stimmten auch die Franzosen gegen die EU-Verfassung, sagt Raoul Marc Jennar

RAOUL MARC JENNAR, 60, ist Belgier und lebt in Frankreich. Zurzeit berät er den französischen Präsidentschaftskandidaten und Bauerngewerkschafter José Bové. Jennar ist Politikwissenschaftler, auf den Welthandel spezialisiert, arbeitete für die belgische NGO Oxfam Solidarité und für Attac. Während der Debatte über das EU-Referendum veröffentlichte er eine Broschüre, die ein Grundlagentext für die EU-KritikerInnen war.

taz: Monsieur Jennar, vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträge unterzeichnet. Ist das ein Grund zum Feiern?

Raoul Marc Jennar: Das wichtigste Ergebnis sind 50 Jahre Frieden in Europa – zwischen Ländern, die lange und oft Krieg gegeneinander geführt haben. Das ist ein Grund zu feiern. Doch außerdem gab es am Anfang auch das Versprechen, eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen. Die Gründer wollten mit der Wirtschaft anfangen, um ein politisches Europa herzustellen.

Das hat nicht wirklich geklappt.

Das ist die immense Enttäuschung. Wir haben einen integrierten gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung geschaffen. Aber wir sind weit von einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa entfernt.

Wird sich das in den nächsten Jahren ändern?

Ich bin kein Wahrsager. Aber für mich hat es Vorrang, die Demokratie in den europäischen Institutionen zu stärken. Europa ist so unpopulär, weil die Leute spüren, dass sie keinen Einfluss auf Entscheidungen haben, die sie betreffen. 60 bis 90 Prozent der nationalen Gesetze kommen aus der EU. Das geht so weit, dass man sich fragt, wozu überhaupt nationale Wahlen nötig sind, wenn ohnehin die EU entscheidet und nicht die Leute, die wir – in Frankreich oder in Deutschland – wählen.

Sprechen Sie da nicht vor allem von den Franzosen? Die anderen Europäer waren doch für die Verfassung.

Wenn der Rest von Europa so zufrieden mit der EU wäre – warum wurden dann die geplanten anderen Referenda abgesagt?

Weil es nach dem französischen und niederländischen Nein zur EU-Verfassung obsolet war.

Ich glaube, das Leitmotiv war die Angst vor negativen Antworten. Selbst in Spanien war die Beteiligung extrem niedrig. Obwohl die Spanier viele Gründe hatten, mit der EU zufrieden zu sein.

In Brüssel und in Berlin heißt es, die Franzosen hätten vor allem aus innenpolitischen Gründen mit Nein gestimmt.

Es gibt ein Gefühl von Enteignung der Staatsbürgerschaft. Wenn Völker mit einer demokratischen Tradition das Gefühl von Ohnmacht haben, dann lehnen sie ab, was dieses Gefühl auslöst. In diesem Fall die Brüsseler EU.

Sind die Franzosen schuld am Stillstand in der EU?

Das ist reine Polemik. Es würde bedeuten, dass es der EU vorher gut gegangen wäre. Aber nur weniger als die Hälfte der Wähler geht zu Europawahlen. Überall sinkt das Ansehen der EU. Das französische und das niederländische Nein haben die Krise der EU nur enthüllt. Außerdem: Von 15 Millionen Franzosen, die mit Non gestimmt haben, waren 12 Millionen Linke. Also Leute, die weder nationalistisch noch antieuropäisch sind. Sie wollen ein soziales Europa.

In Frankreich gibt es auch linke Nationalisten.

Die Linksnationalisten sind ein verschwindend kleiner Anteil.

Mehrere Präsidentschaftskandidaten in Frankreich wollen die alte EU-Verfassung in gekürzter Form realisieren …

Was bei Royal, Bayrou und Sarkozy fehlt, ist eine Vision von Europa. Was für ein Europa wollen sie? Welche Rolle soll es in der Welt haben? Eine Supermacht wie die USA? Eine politische Einheit? Das ist unklar – und das schafft Ungewissheiten.

Also sind Sie gegen eine Neuauflage der EU-Verfassung?

Ja. Wir, bei José Bové, wollen, dass die existierenden Verträge neu verhandelt werden, um eine andere Sozialpolitik zu machen. Der Traum von Europa ist Gleichheit. Wir haben gesagt, Europa ist sehr schnell und vielleicht zu weit in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht vorgeprescht. Die EU ist eine Freihandelszone geworden. Und nirgends sozial, politisch und umweltpolitisch. Um das zu korrigieren, ist ein neuer Vertrag nötig.

Warum gibt es keine gemeinsame Kandidatur aus dem Lager der linken EU-Kritiker?

Das haben die Erben von Lenin – die trotzkistische LCR und die kommunistische KPF – zu verantworten.

Bové hat zwar die Unterstützung von Globalisierungskritikern und von Dissidenten aus sämtlichen linken Parteien, aber laut Umfragen bekommt er nur zwei Prozent. Wozu soll seine Kandidatur nützen?

Warten wir die Entscheidung der Wähler ab. Angesichts der Entwicklung der französischen Sozialdemokratie brauchen wir ein Gegengewicht auf der Linken. Die PS ist sozialliberal geworden. Ohne Gegengewicht – jenseits der Erben von Lenin – gehen wir in Richtung einer Gesellschaft nach dem US-Modell: Jeder für sich. Jeder in Konkurrenz gegen den anderen. Und Kultur und Bildung für jene, die sie sich leisten können.

Sehen Sie politische Verbündete in Deutschland.

Ja, Oskar Lafontaine.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN