Schwarze Löcher lesbar

Die Liebe umarmen, bis sie Prellungen hat: Gisèle Viennes „I apologize“ schildert die Gratwanderung von Zwang und Zärtlichkeit – und stiftet Klarheit durch das Unbehagen des Verwirrtseins

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Immer diese Widersprüche! Jonathan, ein hipper junger Mann in schwarzer Jeans plus Sweatshirt, steht auf der Bühne des Düsseldorfer Tanzhauses. Um ihn herum sind Holzkisten drapiert, länglich der Form nach und dabei an Särge erinnernd. Jonathan öffnet die Kisten eine nach nach der anderen, und platziert ihren Inhalt auf der Bühne. In den Kisten findet er seine Spielkameraden. Es sind Puppen – starr blickende und nicht zuckende Objekte der Begierde in Schuluniform.

Gisèle Viennes „I Apologize“ liebt die Klischees. Jonathan, der einsame Misanthrop, ist der dramatische Knoten einer quälenden Beziehungsgeschichte, in der die Grenzen zwischen Zwang und Zärtlichkeit permanent verschwimmen. Ort und Zeitpunkt der Handlung bleiben ebenso im Dunkeln wie die Motivation ihres Protagonisten. Mit unchoreografiert inszenierten Bewegungen durchmisst er die Bühne und wirft das Arrangement der Figuren permanent durcheinander. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies Puppen sind oder die beiden Mittänzer aus Fleisch und Blut. Anja und Jean-Luc sind deren Namen und beide sind Grenzgänger zwischen Handelnden und Puppen. Die eher unscheinbare Anja wird dabei bewusst als Spielpuppe inszeniert und weist mit jeder ihrer Bewegungen auf die enorme Anstrengung hin, die ihre Rolle von ihr verlangt. Anders Jean-Luc, der den Part des homosexuellen Begehrens verkörpert. Ganzkörper tätowiert und mit Piercings versehen, scheint die Rolle, die Jonathan ihm zugedenkt nur ein weiteres Bruchstück einer Inszenierung zu sein, die kaum zwischen Bühne und Alltag zu unterscheiden sucht.

Doch auch er ist nur ein Spielball von Jonathans Phantasien, der im Zentrum seiner kleinen Welt der Schöpfergott ist und dabei persönlich über Leben und Tod entscheidet. Jonathan richtet den Revolver auf Jean-Luc und Anja, drapiert ihre Körper auf den Kisten und küsst und schlägt sie nach eigenem Belieben. Doch dabei bleibt er merkwürdig wortlos, nur ein Röcheln und Knurren entkommt seinem Mund. Begründung braucht so ein Schöpfergott schließlich nicht.

Die Erzählstimme von „I Apologize“ kommt aus dem Off: „I hug my friends until we‘re bruised. I won‘t quit hugging them, not if they scream at me to stop.“ Sie gehört Dennis Cooper, dem amerikanischen Autor, der in fünf Büchern den Stereotypen des drogensüchtigen Teenage Boy in den Mittelpunkt des Begehrens stellte, um für seine eigene Jugendliebe George Miles einen Erinnerungsort zu schaffen. Spärlich aber formvollendet sind die Schnipsel von Coopers Texten: Jemand entschuldigt sich für Tränen und Schläge, eine Konversation erzählt die Kontaktaufnahme von Escort und Kunden. Und hinter den Textfragmenten liegen die dräuenden Drones des Wiener Laptop-Musikers Peter Rehberg, deren Ausbrüche ins Weiße Rauschen noch am ehesten einen Einblick in die Psyche Jonathans geben können.

Doch entscheidend für das Gelingen von „I apologize“ sind die Leerstellen. Durch gezielte Auslassungen spielt Vienne mit den Erwartungen der ZuschauerInnen, die einen Sinn durch das Hinzufügen von Selbstverständlichkeiten und Hypothesen erst herstellen müssen, um dem Fortgang der Handlung überhaupt folgen zu können. Eine innere Nabelschau, über deren konkreten Inhalt man nur ungern nachdenken möchte. Beendet wird sie wieder durch Coopers Stimme: „You can read my black holes now.“ Danach Saallicht und Applaus.