Hat das Gymnasium ausgedient?

NRW diskutiert über die Kritik der UN am deutschen Schulsystem: Brauchen wir nicht eine Gemeinschaftsschule, statt Zehnjährige zu auszusortieren? Wenn das Gymnasium nur Eliten reproduziert und sich gegen andere Schichten abschottet – sollten wir es nicht abschaffen?

ERNST RÖSNER, 58, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund. Der Arnsberger forscht zur Qualität von Schule und ist in der regionalen und kommunalen Schulplanung tätig. Für Schleswig-Holstein hat Rösner das Konzept der Gemeinschaftsschule entwickelt. Bereits 1989 erschien sein Buch „Abschied von der Hauptschule“.

JA

Dieses Gymnasium brauchen wir nicht: Wo der unbestreitbare Erfolg der Schule nur um den Preis einer rabiaten Auslese zu sichern ist. Wo Zugangschancen sowie Erfolgsaussichten abhängig von der sozialen Herkunft sind. Wo Seiteneinsteiger Raritäten sind und ein vorzeitiger Rausschmiss kaum noch korrigierbar ist.

Vergessen wir auch nicht, dass die Zugangschancen zum Gymnasium regional so stark variieren, dass das Mantra von der Auslese nach Eignung und Befähigung der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Von der Absurdität der Begabungsgerechtigkeit als Begründungsmuster der Dreigliedrigkeit ganz zu schweigen.

Nur: Wer in diesem Land über Ansehen, Einfluss und Vermögen verfügt, hat in aller Regel ein Gymnasium besucht. Kinder, denen es später ebenso gut gehen soll, werden zum Gymnasium geschickt. Das sichert die Status-Kontinuität der Familie und fördert die Lobby. Und wenn dabei der eine oder andere gesellschaftliche Aufstieg durch ein kleines bisschen Ungerechtigkeit verhindert wird, so schützt das immerhin vor zu viel Andrang bei den begehrten Positionen.

Von allen geneigten Seiten schallt es: Das Gymnasium erzielt hohe Leistungen, das Gymnasium verkörpert humanistische Tradition, das Gymnasium kann mit Finnlands Schulen mithalten. Hundertfach gehört. Stimmt auch alles. Aber dazu bedarf es bei Licht besehen keines Gymnasiums.

Also Gymnasium abschaffen? Vorsicht bitte: Gymnasium ist nicht auf eine Schulform oder gar ein Gebäude reduzierbar. Es geht darum, gymnasiale Bildung neu zu denken. Das könnte darauf hinauslaufen, gymnasiale Bildungsgänge zu Bestandteilen der vielbeschworenen „Schule für alle“ machen. Mit vielfältigen Kooperationen, mit integrativen Elementen (wozu Gymnasialsport?), mit Verantwortung des Kollegiums für jedes einzelne Kind. Mit ausgeprägten Förderangeboten. Und mit Durchlässigkeit in alle Richtungen.

Noch zu sehr traditionellen Mustern verhaftet? Nun gut, es geht auch anders, vielleicht sogar besser: Pflege der unbestreitbaren gymnasialen Qualitäten in einer Schule ohne Schulformgliederung. Mit klar ausgewiesenen Standards auch auf Gymnasialniveau, mit der Pflege auch dessen, was das Gymnasium an Kulturvermittlung repräsentiert. Mit einem breiten Angebot an Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten.

Wir brauchen kein Gymnasium. Worum es also letztlich geht, ist die Aufrechterhaltung gymnasialer Leistungen in einem veränderten pädagogischen Handlungsfeld. Dazu ist eine strukturelle Neuorganisation des Bildungswesens unerlässlich. Aber die ist ja ohnehin nicht mehr aufzuhalten.

ERNST RÖSNER

NEIN

Was für eine Frage – ist das Gymnasium doch die Schulform, die im PISA-Vergleich internationalen Anschluss halten konnte. Gutes entwickelt man weiter, man schafft es nicht ab.

Kern des neuen Schulgesetzes ist die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlicher mit Rücksicht auf ihre unterschiedlichen Begabungen. Am besten gelingt dies bei nicht allzu großer Heterogenität der Schülerschaft. Deshalb gibt es allen Grund, am gegliederten Schulwesen festzuhalten und die Unterrichtsqualität innerhalb des Systems zügig weiterzuentwickeln.

Wir brauchen kognitive Hochleistungen – eine Elite –, um in Wissenschaft und Forschung sowie in der Wirtschaft im internationalen Vergleich wieder die Nase vorn zu haben. Das Potenzial unserer jungen Menschen muss sich deshalb uneingeschränkt entfalten können. Und da gibt es nun einmal Schülerinnen und Schüler, denen alles ein bisschen leichter und schneller von der Hand geht, die darüber hinaus früh für eine analytische und abstrahierende Arbeitsweise offen sind, die für ein späteres Studium unverzichtbar ist.

INGRID PIEPER-VON HEIDEN, ebenfalls 58, ist eine der beiden Frauen, die für die FDP im Landtag sitzen. Die Abgeordnete aus dem ostwestfälischen Lemgo ist schulpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Die „begeisterte Freizeitläuferin mit Hermannslauf-Erfahrung“ (31,1 Kilometer) sorgt sich vor allem um den Eliten-Nachwuchs: 2001 hat sie die Stiftung „Bildung zur Förderung Hochbegabter“ ins Leben gerufen.

Diese Fähigkeiten dürfen wir nicht versanden lassen, sondern müssen sie sowohl im Interesse des Individuums als auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse aufgreifen und ihnen so früh wie möglich zur bestmöglichen Entfaltung verhelfen. Wer ein bisschen später diesen Entwicklungsschritt macht, kann jederzeit von einer anderen Schulform zum Gymnasium wechseln – mit Unterstützung und Begleitung der abgebenden Schule und des aufnehmenden Gymnasiums. Das NRW-Schulgesetz schafft hierfür eine bisher nie gekannte Durchlässigkeit und hilft dabei mit zusätzlichen Förder- und Ergänzungsstunden.

Wo anders als am Gymnasium können unsere Jugendlichen nun endlich auch in Nordrhein-Westfalen ihr Abitur bereits nach 12 Schuljahren ablegen? Unsere Gymnasiasten sind doch nicht dümmer und langsamer als ihre Kollegen im übrigen Europa. Die neue gymnasiale Oberstufe hat eine stärkere allgemeinbildende Funktion und wird einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Studierfähigkeit unserer Abiturienten leisten.

Das NRW-Schulsystem ist auf einem guten Weg, das Gymnasium ausgesprochen erfolgreich und nachgefragt: Zum laufenden Schuljahr 2006/2007 konnten 39 Prozent aller Grundschulkinder ihre Schullaufbahn auf einem Gymnasium fortsetzen. Dies ist die höchste Übergangsquote zum Gymnasium, die es je in NRW gegeben hat. Diese Zahlen und die von der neuen Landesregierung eingeleiteten Reformmaßnahmen in der Schulpolitik sprechen eine überzeugende Sprache.

INGRID PIEPER-VON HEIDEN