Große Sprünge

Zu Besuch bei einer Karrierefrau

von Gabriele Goettle

„Es macht nichts, wenn einige früher reich werden als andere“

Deng Xiaoping

Im Jahr 1608 verließ der 16-jährige Adam Schall von Bell das jesuitische Dreikönigsgymnasium in Cöln, ging nach Rom, wurde Jesuit, erhielt einen Missionsauftrag, schiffte sich ein nach China, wurde in Peking Hofastronom des chinesischen Kaisers, führte eine Korrektur und Modernisierung des chinesischen Kalenders durch, stabilisierte damit die Legitimität des Herrschers (die sich aus einem himmlischen Mandat herleitete), wurde zum Mandarin 1. Klasse ernannt und starb nach einigen Tumulten im Alter von 74 Jahren in Peking. China war im 17. Jahrhundert die höchstentwickelte Region der Erde.

Fast 400 Jahre später macht sich Corinna Bremer, Jahrgang 1974, auf den Weg nach China. Sie lernte auf dem Dreikönigsgymnasium in Köln Chinesisch, belegte nach dem Abitur Moderne Chinastudien, VWL und Politik an der Uni Köln, besuchte die Henri-Nannen-Schule für Journalisten in Hamburg, arbeitete als Projektleiterin in einem Zeitschriftenverlag in Peking, danach als Trainee in einem großen Buch- und Zeitschriftenverlag in Hamburg, zuletzt als Assistentin des Vorstandsvorsitzenden. Zukünftig wird sie in Peking die Verlagsleitung für die chinesische Ausgabe eines bekannten populärwissenschaftlichen Magazins aus ihrem Verlagshaus übernehmen.

Corinna Bremer, eine moderne, gut ausgebildete, vielsprachige junge Frau, bricht voller Enthusiasmus nach China auf. In ein Land, das viele Leute meiner Generation, besonders wenn sie mit dem Maoismus sympathisierten – und davon gab es zahllose, sogar unsere amtierende Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Antje Vollmer waren Maoistinnen –, mit den gemischtesten Gefühlen betrachten. China hat 1,3 Milliarden Einwohner, ist die größte Handelsmacht der Welt und Europas zweitgrößter Handelspartner nach den USA. Seine wachsenden Exporte und niedrigen Löhne wirken bedrohlich, nicht nur auf die hiesige Textilindustrie. 90 % aller Handys, 50 % aller Schuhe und Kameras werden zum Beispiel heute in China produziert. Seit Deng Xiaoping nach Maos Tod (1976) die Öffnung nach Westen und den „chinesischen Sozialismus mit vielfältigen Formen des Eigentums“ einführte, boomen die Küstenregionen, verarmt das Landesinnere, wächst die Luft- und Wasserverschmutzung rapide. China ist nach den USA zweitgrößter Luftverschmutzer. Allein in Peking gibt es inzwischen 2,5 Millionen Autos und täglich 1.000 Neuzulassungen. Der Kapitalismus unter der Führung der Kommunistischen Partei entwickelt sich rasant. Die KPCH schafft ein gutes Investitionsklima, „ausländische Teufel“ werden willkommen geheißen als große Lehrer und Beschleuniger der Entwicklung der Produktivkräfte. Die proletarischen Massen lernen westliches Profitdenken und Markenbewusstsein. Widersprüche, von denen niemand auch nur zu träumen gewagt hätte.

Ich treffe Corinna Bremer in Köln, in der Altstadt, wo sie ein Zimmer in der Wohnung ihres Mannes hat zum gelegentlichen Gebrauch. Sie wirkt schmal, müde, trägt Jeans und Kapuzenshirt und ein wärmendes rotes Tuch um die Taille. Sie schenkt uns Tee ein und erzählt:

„Ich komme grade aus Peking, gestern Abend, damit ich pünktlich bin zu unserem Gespräch. Das sind zwei verschiedene Welten, zwischen denen ich da hin- und hergeswitcht bin. Achteinhalb Stunden hin, da muss ich dann versuchen zu schlafen, denn die sind uns ja sieben Stunden voraus. Und wenn ich ankomme, ist es frühmorgens, und man hat einen ganzen Arbeitstag vor sich. Elf Stunden bin ich zurückgeflogen, über Frankfurt, und mit dem ICE nach Köln.

Ich hab jetzt grade als Übergang die Wohnung einer chinesischen Freundin in Peking gemietet. Sie lebt in Hamburg und will sie nicht aufgeben. Die Wohnung liegt innerhalb des zweiten Rings, also mitten in der Innenstadt, und ist sehr nett mit alten chinesischen Möbeln eingerichtet. Dieses Viertel heißt Hofhausgegend, nach den alten Hofhäusern, die abgerissen worden sind, weil sie echt ein Slum waren – es gibt aber auch Gegenden, wo die Hofhäuser erhalten und saniert worden sind, da ist es jetzt ganz chic einzuziehen. Wo ich wohne, hat man Hochhäuser hingebaut, die sehen aus wie Sozialwohnungen, Plattenbauten. Das gibt’s überall in Peking, sie erstrecken sich bis an den Horizont und sind superbegehrt. Hier sind auch die ehemaligen Hofhausbewohner reingesetzt worden. Das sind übrigens alles Muslime, die aber extrem chinesisch aussehen, erkennbar nur an ihrem weißen Käppi. Ich wohne im 17. Stock. Es sind immer so etwa 200 Wohnungen, also bis zu 1.000 Leute in einem Gebäude. Ich blicke auf eine Großbaustelle für das nächste Riesenhochhaus. Rechts davon liegt der zweite Ring, eine zwölfspurige Autostraße. Und ich schaue auf das Dach einer Moschee. Unten im Haus ist ein Gemeindezentrum, wo die Frauen abends tanzen oder Pingpong spielen. Der Kioskbesitzer in diesem Komplex hat einen großen Hund, der immer über die Theke schaut, das ist alles schon ganz schön.

Nur mit den Grünanlagen will es nicht so richtig vorangehen. Die sind halt kümmerlich. 100 Kilometer vor Peking fängt ja die Wüste an. Deshalb ist Peking eine echt staubige Wüstenstadt. Ich werde immer sofort krank. Diese Kombination aus totaler Dürre, Trockenheit und extremer Luftverschmutzung macht allen Einwohnern schwer zu schaffen. Ausländern umso mehr. Man wacht nachts auf und hustet, obwohl überall so kleine Maschinchen rumstehen zur Luftbefeuchtung. Aber es nutzt nichts. Du merkst das schon gleich beim Landeanflug auf Peking, man taucht in eine richtige Schmutzglocke ein, diesmal war’s extrem, ich bin richtig erschrocken, dass ich demnächst da leben werde.

2008 soll ja die Sommerolympiade nach Peking kommen. Ich hab mal so rumgefragt, ob sie davon ausgehen, dass sofort dann eine halbe Million Ausländer krank werden? Also man will erst mal ein Stahlwerk, das angeblich 40 % der Luftverschmutzung verursacht, irgendwohin verlegen. Aber alle sind total fatalistisch, was Peking angeht. Man wird vielleicht während der Olympiade den Autoverkehr stark einschränken, aber wenn sie vorbei ist, geht alles so weiter wie bisher; oder schlimmer. Das heißt dann aber auch, dass Peking in zehn Jahren unbewohnbar ist. Das ist ganz übel.

Bis Anfang der 80er-Jahre hat es ja kaum private Autos gegeben, nur Berufsverkehr. Das ganze Land fuhr mit dem Fahrrad. Die Radfahrer sind jetzt ziemlich verdrängt, es gibt in Peking allerdings ganz breite Fahrradstraßen, die sind für Autos gesperrt. Wobei da immer wieder auch Autos illegal durchfahren, wenn Stau ist. Und Stau ist fast immer und überall. Die Mutter eines amerikanischen Bekannten war zu Besuch und mit dem Fahrrad unterwegs. Sie ist von einem ‚Verkehrssünder‘ angefahren und dann auch noch beschimpft worden. Das haben Passanten mit ihrem Handy aufgenommen. Am nächsten Tag war das die Meldung Nummer eins in ganz China. Es gab eine richtige Kampagne, auch wegen der Olympiade. Der Fahrer wurde identifiziert und musste sich öffentlich entschuldigen. Also man zeigt, dass man um gutes Benehmen bemüht ist angesichts der Weltöffentlichkeit, die bald in Peking ist.“

Auf meine Frage, ob Mao eigentlich noch präsent ist, sagt sie: „Na ja, am Tor des Himmlischen Friedens zum Beispiel oder durch die Devotionalien für die Touristen. In der Partei natürlich, aber ansonsten hat das mit der Lebenswirklichkeit von Leuten in meinem Alter, Leuten, die Geschäfte machen, überhaupt nichts zu tun. Aber es wird halt nicht öffentlich Abstand genommen, die Losung heißt: Er hat 70 % Gutes und 30 % Schlechtes gebracht. Diese von der Partei durchgeführte und geplante Öffnung zum Kapitalismus ist ein schönes Beispiel dafür, wie es funktioniert, es ist immer personengebunden. Die Einhaltung der Prinzipien wird überwacht.

Wir als Medienwirtschaft dürfen natürlich nicht unabhängig agieren. Unser deutscher Verlag ist ja schon seit 2000 mit verschiedenen Zeitschriften auf dem chinesischen Markt, in Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern. Wir können – wie alle ausländischen Unternehmen – nur als Jointventure auftreten und dürfen im Prinzip auch keine Inhalte selber erstellen. Was in unseren Zeitschriften steht, verantwortet der chinesische Partner, also sozusagen der staatliche Partner. Also de jure müssen wir die Inhalte zur Zensur vorlegen, bevor sie in den Druck gehen, de facto wird aber nichts zensiert, weil unsere Leute natürlich alle die Schere im Kopf haben und wissen, was sie schreiben können. Es ist noch nie passiert. Mal sehen. Ich steige da ja jetzt richtig ein mit diesem neu zu gründenden Projekt populärwissenschaftliches Magazin – mehr darf ich dazu momentan nicht sagen –, und es gibt ein bereits bestehendes Projekt, um das werde ich mich auch kümmern. Also ich muss als Erstes den Chefredakteur suchen und muss gute Redakteure finden. Ich werde die ganzen Tageszeitungen durchgehen nach Leuten, die in unserer Qualität arbeiten, Reportagen machen, Berichte, und das sollen natürlich ausschließlich Chinesen sein. Ich habe ja dort schon mal gearbeitet, 2003 bis 2004, habe ganz viel Henry-Nannen-Schulmaterial ins Chinesische übersetzt und dabei auch so ein bisschen gelernt, wie man chinesische Texte einschätzt.

Also, es werden, glaube ich, so um 8.000 Zeitschriften verlegt in China, das Anzeigenvolumen wächst angeblich um 30 % pro Jahr. Aber wir haben Auflagen in China, da würde in Deutschland keiner einen Finger dafür krumm machen. Noch ist es so: ‚Erster, zweiter, dritter Ring‘, die wirklich wichtigen Städte sind nur Peking, Schanghai und Kanton. Wenn man Marktforschung macht, dann sind bereits Unterschiede zwischen Schanghai und Peking sehr deutlich. Die Pekinger sind so, wie man sich in Deutschland kulturell interessierte Leute wünscht, sie finden die Inhalte toll, die Bilder super und eben das, was sie da an Wissen mitnehmen. In Schanghai ist es vor allem wichtig, dass die Hefte gut aussehen, dass man damit angeben kann, wenn sie auf dem Kaffeetisch liegen. Die Chinesen sagen von sich, dass die Pekinger keinen Geschäftssinn haben und dass die Leute in Schanghai und Kanton zwar extrem geschäftstüchtige Kaufleute, dafür aber vollkommen kulturlos sind. So, damit muss man umgehen, wenn man Zeitschriften macht. Also die Rede vom Markt mit den 1,5 Milliarden ist natürlich echt ein Witz, weil es eben nur wenige gibt, die Geld ausgeben wollen für Zeitschriften und die sich eben auch dafür interessieren.“ Ich frage, was denn so eine Zeitschrift kostet und was, im Vergleich dazu, ein Kilo Reis. „Also umgerechnet etwa drei Euro für die Zeitschrift, ein Sack Reis von zehn Kilogramm wird im Durchschnitt zwischen vier und sechs Euro liegen.“ (Zehn Kilogramm Reis reichen circa einen Monat für eine dreiköpfige Familie. Das Jahresdurchschnittseinkommen in Peking beträgt zurzeit 2.400 Euro. Anm. G. G.)

Ich frage nach Armen, nach der Landflucht der Bauern. „Also normalerweise seh ich nix, ich muss schon sehr danach suchen. Das Einzige, was man wirklich sieht, ist die Umweltverschmutzung. Was noch auffällt, ist diese andere Armut, alles ist kaputt oder billig gemacht, die Bürgersteige, die Mäntel, viele der Hochhäuser. Was auch auffällt, ist die sorgfältige Verwaltung von Müll. Auf unserem compound leben etwa vier Müllsammler von verwertbaren Abfällen und Plastikflaschen und -kanistern. Und die Landflucht, da ist es ja nicht so wie in Lateinamerika, dass riesige Slums entstehen. Die Leute werden noch aufgefangen durch den wahnsinnigen Bauboom. Als Bauarbeiter sieht man sie, sie sind in Containern untergebracht, im Sommer schlafen sie in den Hochhäusern selber. In der U-Bahn-Station am Bahnhof, da sieht man sie. Sie haben diese Polentaschen und sind ganz abgerissen, viel kleiner und schmächtiger und vor allem viel dunkler, von der Haut her. Also dunkle Haut ist ein Zeichen der Bäuerlichkeit und gilt als unschön. Deshalb achtet man auch sehr darauf, nicht braun zu werden – Bräunungsstudios sind also undenkbar. Wenn die Chinesen im Sommer ans Meer fahren, benutzen sie Sonnenschirme und Sonnenschutzmittel. Also braun ist gleich arm, sozusagen. Leute vom Land, die ungelernt sind, die haben unter Umständen schon Probleme, aber da eben die chinesische Wirtschaft heiß läuft, ist das kein dramatisches Problem.

Also die Leute, die wir unbedingt haben wollen im Verlag, sind natürlich in einer besseren Lage, die haben studiert, beziehen ein gutes Gehalt, sind sozial abgesichert – Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich die Kosten für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Auch die Facharbeiter sind besser gestellt. Insgesamt aber gibt es eine hohe Fluktuation, alles ist in Bewegung.“

Ich frage, ob ihr Peking nicht moderner vorkommt als Hamburg. „Hamburg ist eine unglaublich reiche, kalte und perfekte Stadt. Peking ist nicht modern! Da wird zwar gebaut wie verrückt, aber unten in den Hochhäusern, da sitzen die Leute an den Eingängen und versuchen was zu verkaufen, kleine Händler mit kleinen Bauchläden, überall. Es ist staubig und dreckig, laut, chaotisch, die Leute sind voller Gier und Eifer, und sehr rücksichtslos. Das hat für mich nichts von Modernität. Ich bin auch nach China mit der Vorstellung gekommen, dass sie im Internet viel weiter sind als wir, dass es ganz andere Tricks, ganz andere Nutzungsgewohnheiten geben würde. Aber das ist nicht der Fall. Deutschland ist um erheblich vieles moderner, auch zum Beispiel, was die Höflichkeitsformen angeht. Was Umwelttechnik betrifft.

Aber es herrscht eine wirkliche Aufbruchstimmung, die Chinesen wollen viel und wollen mehr, sie pushen. Von daher hat man ein Beschleunigungsgefühl. Ich sehe, wenn man Geschäfte macht, wie schnell da alles klappen kann. Ich sehe, wie rasch und gut die Unternehmen meiner chinesischen Freunde wachsen, wie schnell sie aufsteigen. Aber dem steht eben gegenüber ein mangelndes Umweltbewusstsein im Lande und sehr ungehobelte Verhaltensformen. Also nicht nur, was die Autorüpel angeht, die durch Fahrradmengen fahren, es ist auch so, dass man nicht Schlange steht, wenn man in die U-Bahn einsteigt, oder dass man nicht aussteigen kann, weil alle bereits schubsend einsteigen wollen. Höfliche Umgangsformen fehlen komplett. Ganz schlimm ist es, eine Straße zu überqueren, keiner hält, auch nicht an Zebrastreifen. Wer rüberwill, muss gehen, ohne hinzusehen. Wer zögert, hat schon verloren. Das ist unverantwortlich.

Ich muss sagen, es fehlt allgemein sehr an Mitmenschlichkeit. Alte Menschen werden zwar sehr geachtet in China, aber das gilt nur für den Familienverbund. Im Straßenverkehr werden sie vollkommen missachtet. Viele trauen sich gar nicht mehr raus. Eine halbchinesische Freundin von mir, die Mutter ist, sagt, es sei fast unmöglich, mit kleinen Kindern eine Straße zu überqueren. Es ist einfach so, dass man sich außerhalb der Familie um niemanden kümmert. Man hört, dass bei Unfällen Leute einfach liegen gelassen werden. Es gibt keine Krankenwagen in Peking, keine Ambulanz, man müsste den Verletzten in ein Taxi packen oder selbst ins Krankenhaus bringen. Das macht aber keiner, denn man muss dort erst mal die Rechnung bezahlen, bevor er behandelt wird. Also wenn einer so einen migrant worker aufliest, kann er sicher sein, dass der keine Versicherung hat.“ (Die freie Gesundheitsversorgung wurde Anfang der 80er-Jahre abgeschafft und mehrmals marktwirtschaftlich neu geordnet. Die Mehrheit hat keinen Krankenversicherungsschutz, besonders auf dem Land, wo man wegen der Gesundheitsmisere wieder Barfußärzte eingeführt hat. Anm. G. G.)

„Meine eigene Versicherungssituation muss erst noch geklärt werden. Es gibt extrem gut ausgestattete westliche Krankenhäuser. Das United Family Hospital zum Beispiel, von einer jüdischen Amerikanerin Anfang der 90er-Jahre nach neuesten amerikanischen Standards ausgestattet, ist absolut bestens. Also die Versorgung in Peking ist okay. Überhaupt die ganze Infrastruktur. Märkte sind da, es gibt alles an Restaurants, was man sich wünschen kann, und auch viele deutsche Bäckereien, Metzgereien. Das genieße ich, wenn ich mein deutsches Brot habe und mir Nürnberger Würstchen braten kann mit Sauerkraut. Es gibt Ikea, dort werde ich mir Billy-Regale kaufen. Meinen Hamburger Biosupermarkt allerdings werde ich vermissen. Aber eigentlich ist es so, dass ich alles esse, ich kaufe mir auch Teigtaschen auf der Straße und gehe in ganz billige, einfache Schnellimbisse.

Man kommt relativ leicht mit Leuten in Kontakt, sie sind sehr offen und neugierig. In Peking spricht man Hochchinesisch, das ist da beheimatet. Ich kann mich wunderbar verständigen. Das ist ein Vorteil, für mein Chinesisch bekomme ich viel Aufmerksamkeit. Es gibt zwar immer mehr Ausländer, die Chinesisch können, aber so gut wie ich können’s nur wenige. Vor allem was die Aussprache betrifft. Das erregt Aufmerksamkeit und ist natürlich auch und besonders bei den Geschäftskontakten immens wichtig. Dadurch bin ich gleich viel zugänglicher, vertrauenswürdiger. Zugleich natürlich hochattraktiv und exotisch. Das ist schon mal ein guter Einstieg in jede Geschäftsverhandlung. Und sie sind dann immer sehr wohlwollend und freundlich. Also ich knack sie alle! Und mit den chinesischen Freunden und Bekannten geht es super, die finden mich natürlich alle toll. Es gibt viel, viel mehr Aufmerksamkeit als in Deutschland.

Und man unternimmt eben eine Menge, zusammen mit ausländischen Freunden, also in gemischten Gruppen, zum Beispiel indem man gemeinsam wandern geht am Wochenende. Das ist in Peking meine Lieblingsbeschäftigung. Um die Stadt herum gibt’s hügelige Berge, bewachsen so ähnlich wie in Korsika, und dann gibt’s einen riesigen Staudamm zum Beispiel oder auch Dörfer und Höhlenwohnungen, Tempelchen und eben frische Luft! Da trifft man Massen von Chinesen, sie haben den Drang rauszufahren, wieder die eigene Geschichte und Kultur zu erforschen, der Stadt zu entfliehen. Und dann schreien sie laut, ganz einfach so, mitten in der Landschaft. Um mal alles rauszulassen, den ganzen Stress. Naturlandschaft war schon immer sehr wichtig in China, Taoismus und so weiter.

Das andere ist halt, dass ich in der Stadt Zuflucht nehme in den Pekinger kulturellen Orten. Ich verbringe ganze Tage in der Verbotenen Stadt oder im Himmelstempel oder im Sommerpalast mit Lesen, Kaffeetrinken, Chinesischlernen. Ich sitze auch gerne in den Parks und schau mir das Treiben an. Die Frauen treffen sich, um ihre Hunde auszuführen, Pudel, Spitze, Pekinesen und so weiter, Gymnastik zu machen. Alte Männer gehn ihren Hobbys nach, lassen zum Beispiel Drachen steigen, und zwar so hoch wie möglich, das machen sie sogar von den Autobahnbrücken aus bei gutem Wind. Dann sieht man die Taubenzüchter und ihre Schwärme, sie bringen auch ihre Singvögel im Käfig mit in den Park, oder Grillentiere, die dann zirpen. Es treffen sich auch Leute zum Pekingopersingen. Andere spielen Federball oder Pingpong. Es spielt sich alles draußen ab. Ich kann da überall ungestört sitzen als Ausländerin, oder, wenn man so will, als Frau. Also ich habe noch nie ein Problem gehabt mit lästiger Anmache oder so, nicht mal andeutungsweise. Ich habe nie Diskriminierung erfahren in Peking, in China. Das ist sehr angenehm.

Ich möchte unbedingt eine Wohnung suchen am Rithan-Park. Es ist schon super in Peking, weil das Leben und Arbeiten dort richtig Spaß macht. Auch die Amerikaner, die ich dort kennengelernt habe, empfinden das so. Sie sind sehr speziell, also sind keine Touristen, sondern sogenannte expatriots, rausgeschickt und so was. Die sind alle sehr klug, wahnsinnig gut ausgebildet und sprechen dann sieben Sprachen, also zum Beispiel nicht nur Chinesisch, sondern auch Tibetisch, weil sie in Tibet gearbeitet haben. Das sind polyglotte Leute, so wie ich. Ich bin ja auch so eine kleine Polyglotte.“ Es klopft, ihr Mann, der auch ständig um die Welt düst – allerdings als freischaffender Wissenschaftler –, sagt hastig Auf Wiedersehen und verschwindet. Sie schenkt lächelnd Tee nach und fährt fort:

„Und, wie gesagt, mit diesem Auslandsstatus lebt es sich sehr gut. Das ist dort meine kleine Welt. Da kommst du auch an alle Scenes ran. Allerdings, Leute, die ein bisschen selbstkritisch sind, die lachen auch über diese ganzen, ach so coolen Undergroundscenes in Peking und über die Ausländer, die man dort antrifft, zum Beispiel in der Musikscene. Und dann gibt’s eine Filmscene, die trifft sich um eine Hochschule herum. Und natürlich gibt’s die Kunstscene. Es gibt ja unglaubliche Galerien, mit inzwischen unglaublich teuren chinesischen Kunstwerken. Also in diesen ganzen Scenes wimmelt es von Westlern. Jungen Westlern meist. Viele sind Austauschstudenten – was ich 1996 ja auch gemacht habe –, und die sind 40 Minuten entfernt draußen in der Eliteuni, haben ihre eigenen Bands gegründet und so weiter. Das ist die Welt der Austauschstudenten. Und die Welt der jungen Chinesen, die da auch studieren und ihre Bands gründen. Und ich bin eher in der Geschäftswelt dann, weil ich eben Zeitschriften mache, Verlagsleitung. Ich werde viele Leute treffen, die schreiben, viele Fotografen.“

Auf die Frage, was sie denn anzieht im Geschäftsalltag, sagt sie: „Na ja, jetzt grade, als Assistentin des Vorstandsvorsitzenden, bin ich halt in Hamburg in Anzügen rumgelaufen, aber ich freu mich drauf, dass ich in Peking wieder Jeans anziehen kann. Das läuft sehr lax, sehr unkompliziert das Leben dort in diesen Dingen. Ich bewege mich wie ein Fisch in dieser aufstrebenden Mittelschicht – also nicht zwischen den Neureichen. Das sind Leute, die bei uns angestellt sind, die nach der Uni klein anfangen und sich dann hocharbeiten. Da bin ich dann halt zu Hause, das ist meine Welt. Und die Unterschicht, die Missstände, die kriege ich kaum zu Gesicht. Eine amerikanische Freundin von mir, die unterrichtet jetzt die Kinder von diesen Wanderarbeitern. Da erfahre ich dann ein bisschen was. Es gibt ja viel Entwicklungs- und Nachholbedarf in den Bauernregionen, deshalb streben so viele in die Städte. Ich bin ja über so ein großes internationales Hilfswerk Patin von so einem chinesischen Bauernmädchen. Die werde ich dann mal besuchen in ihrem Dorf. Denn, wie gesagt, ich lebe in Peking ja weitgehend abgeriegelt von der chinesischen Wirklichkeit. Und ich weiß, Peking ist anders als alle anderen Wirklichkeiten in China. Ganz zu schweigen von meiner Wirklichkeit, die extrem komfortabel ist.

Also ich komme mir jetzt grade so ein bisschen unpolitisch vor, wenn ich berichte, wie einfach für mich das Leben in China ist. Es entstehen in China viele neue Probleme, und die alten sind noch nicht gelöst. Es gibt zum Beispiel einen ganz tiefen Graben zwischen der Generation, die mit der Kulturrevolution groß geworden ist, und der danach. Wir haben extrem viele junge Mitarbeiter – darunter sehr viele Frauen übrigens –, die in den 70er- und 80er-Jahren geboren wurden, die also nur noch ein bisschen oder gar nichts mitgekriegt haben von der Kulturrevolution. Wir haben aber auch ältere Leute eingestellt, zum Beispiel hatten wir mal einen Chefredakteur, der sehr schwierig war. Mit denen muss man wahnsinnig vorsichtig sein, weil die alle gestört sind, extreme psychische Probleme haben, weil sie zum Beispiel mitansehen mussten, wie Leute umgebracht wurden. Mit denen kann man nicht gut arbeiten.

Von den noch Älteren kenne ich nicht so viele, nur die Eltern von Freunden. Die waren halt Funktionäre, Staatsangestellte, kriegen Rente – ab 55 gehen Frauen, ab 60 Männer in Pension –, und die leben recht wohl situiert. Viele machen Kalligrafie, Tai-Chi, malen, gehn spazieren. Die Mutter einer Freundin schreibt die ganze Zeit Artikel, Kritik an Fehlern, die gemacht werden. Die schickt sie aber nie ab, aus Angst. Mit solchen Leuten muss man wahnsinnig vorsichtig sein, weil man nie weiß, wie wenig robust sie sind. Also ich bin der Meinung, wir müssen da sehr verantwortungsvoll auftreten, auch als ausländisches Unternehmen, was jetzt zum Beispiel, wie ich finde, durchaus dieser Verlag tut, den wir gekauft haben. Wir haben einen neuen Geschäftsführer eingesetzt, und der hat in seiner Antrittsrede den Mitarbeitern versprochen, dass sie in einem Verlag arbeiten werden, der dafür sorgt, dass sie da gerne arbeiten und sich wohlfühlen und wertgeschätzt. In dem sie sinnvolle Arbeit machen. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass mit solchen Unternehmen menschliche Werte vorgelebt werden, dass man Sachen manifestiert, die in chinesischen Staatsbetrieben nicht vorgesehen sind. Und das trägt auch dazu bei, dass man die chinesische Gesellschaft auch voranbringt, wenn man Werte etabliert.

Von daher ergibt sich für mich: Am besten sind Mitarbeiter aus dem jungen chinesischen Mittelstand. Wenn ich auf die gucke, dann sind das unkomplizierte, unhierarchische und sehr engagierte Leute, die mit der chinesischen Vergangenheit nichts zu tun haben wollen. Sie beziehen sich auf die Zukunft. Allerdings gibt es grade auch an den Eliteunis einen sehr starken Nationalismus, der da vermittelt wird. Sie wollen DIE Weltmarke werden, die Weltmacht! Also wenn man sich das in China hier ansieht, das ist ein Entwicklungsland, das weit zurückliegt hinter dem Westen. Kein Vergleich! Man darf sich von der Optik nicht täuschen lassen. Vieles, was entsteht, ist sehr hastig und schlecht gebaut. Viele neue Häuser zum Beispiel sehen nach fünf Jahren uralt aus in Peking. Auch die Geschäftshäuser. Alles bröckelt. Aber alles entwickelt sich rasend schnell. Dazwischen gibt es viele Lücken.

Insofern versteht man sich in unserer Arbeit immer auch als Wissensgeber, der da deutsche Systematiken einführt. Und deshalb wird man auch sehr respektvoll behandelt, weil es eben sehr gewünscht und gewollt ist, dass man dieses Wissen übergibt. Sie wollen ganz energisch unser beziehungsweise das westliche Know-how übernehmen; auf allen Gebieten, um es eines Tages vollkommen unabhängig von uns anwenden zu können. Das ist immer im Hinterkopf der Gedanke. Die Frage ist halt, ob die Chinesen wirklich so weit kommen, wie sie’s jetzt planen. Ob dieser geplante Aufstieg zur Weltmacht, ob der tatsächlich gelingen kann. Das ist ja die Diskussion eben, ob China auf Kosten des Westens wächst, ob die Konsequenz Verarmung des Westens sein wird.“

Wir lassen die Frage im Raum stehen und wenden uns dem biografischen Schlusswort zu. „Ich bin hier in Köln aufgewachsen. Mein Vater war Richter, meine Mutter Fotografin, also gut situiertes Bürgertum und so. Ich war immer sehr introvertiert, eine Einzelgängerin. Die Pubertät war schrecklich, und ich war eben anders, auch in meinen Interessen, hab mich halt interessiert für Literatur und für klassische Musik. Das allein war schon der absolute Ausschlussgrund, wenn man sich für klassische Musik interessiert hat und nicht für das, was angesagt war.

Na ja, und dann hab ich mit 15, 16 angefangen, Chinesisch zu lernen – das gab’s als Angebot in der Schule plötzlich. Meine Schule ist die älteste Schule Kölns, oder des Rheinlands sogar, 1450 wurde sie gegründet und im 16. Jahrhundert ist dort ein Jesuit ausgebildet worden – damals war sie jesuitisch –, der dann nach China gegangen ist, um den Kaiser zu bekehren. Die Jesuiten haben ja nicht von unten her missioniert im einfachen Volk, die haben ihr geballtes Wissen direkt an den Kaiserhof getragen, haben eifrig missioniert unter den Eunuchen und Hofdamen, und sie konnten den Kaiser beeindrucken mit ihrer Astronomie und Mathematik. Na gut, der war also auf meiner Schule und deshalb wurde Chinesisch angeboten. Und dadurch, dass ich dann im Studium mich weiterhin mit China beschäftigt habe, hat sich bei mir alles ein bisschen beruhigt.

Ich habe meine Diplomarbeit über die EU-Politik der Volksrepublik China in den 90er-Jahren geschrieben. Und als ich dann in die Henry-Nannen-Schule kam, da war es so, dass ich dort gleichgesinnte Leute gefunden habe. Zum ersten Mal Leute, die so gut waren wie ich in allem. Mit denen man super zusammenarbeiten konnte, mit denen es Spaß gemacht hat, etwas gemeinsam zu machen. Aber ich hatte etwas Angst, dass es auf Arbeitslosigkeit hinausläuft. Erst sah es auch so aus, keiner hat einen Job bekommen. Nur ich dann, weil mein Verlag damals grade mit Projekten in China angefangen hatte, und da war es nützlich, wenn jemand Chinesisch kann. Also diese Gefühl des Ausgeschlossenseins, das hat sich eigentlich erst wirklich gelegt, als ich in China gearbeitet habe – und da sehr gut mit Leuten kooperiert habe und Sachen vorangebracht habe. Und als ich danach meinen Job bekommen habe als Assistentin des Vorstandsvorsitzenden, wo man sehr viel gearbeitet hat, aber auch immer sehr viel Feedback bekommen hat, also das war sehr angenehm, das war eine große Erleichterung für mich. Sehr groß! Man öffnet sich ja auch ganz anders, wenn man Leute hat, in denen man sich spiegeln kann. Es ist schon zum ersten Mal so, dass man sich verstanden fühlt oder angeregt ist, in so einer Arbeitsumgebung, in der Zusammenarbeit mit sehr erfahrenen und hoch bewerteten Managern.“

Einige Tage später ergänzt sie per E-Mail: „Und nochmal mein Kapitalimus-Bekenntnis: Ich bin gern in einem Großkonzern angestellt, schöpfe Mehrwert, arbeite in Beziehungen, setze mich durch, verschiebe Grenzen nach außen etc. Eine bessere Gesellschafts- und Wirtschaftsform gibt es auch für China nicht.“