Zicke wird Nixe

Die Australierin Leisel Jones ist die beste Brustschwimmerin der Gegenwart. Bei der WM in Melbourne fliegen ihr die Herzen zu – das war nicht immer so

AUS MELBOURNE ANDREAS MORBACH

Gestern war für eine ganze Reihe von Melbournes Grundschülern Klassenausflug angesagt. Die einheimischen Kids saßen am Vormittag in der Rod Laver Arena, kreischten, sobald ein australischer Schwimmer zu seinem Vorlauf antrat, und hauten dazu die gelben Plastikwürste gegeneinander, die ihnen ein WM-Sponsor in die Hände gedrückt hatte. Ganz besonders heftig war das Gekreische und Würsteklopfen, als Leisel Jones auf den Startblock stieg. „Ich war überrascht über den Lärm, das war richtig gut“, sagte die 21-jährige Brustschwimmerin. Jones, als Australiens sicherste Goldmedaillenbank in Melbourne gehandelt, erinnert sich nur allzu gut daran, dass ihr die Sympathien nicht immer so zugeflogen sind. Denn Lovely Leisel, die ihre Landsleute regelmäßig mit Titeln und Weltrekorden entzückt und gestern Abend erwartet sicher ins heutige Finale über 100 m Brust schwamm, war noch vor wenigen Jahren alles andere als lovely. Den australischen Medien diente sie nach zwei verpassten Goldmedaillen in Athen vielmehr als Sandsack, auf dem immer die härtesten Schläge landeten. Die nationale Schwimmlegende Dawn Fraser verspottete sie damals als „eigensinnige Zicke“.

Die blonde Queenslanderin war als Verliererin gebrandmarkt, doch innerhalb von drei Jahren hat sie ihren scheinbar hoffnungslos ruinierten Ruf auf Hochglanz poliert. Die Metamorphose vom begabten, aber freudlosen und von Selbstzweifeln zerfressenen Teenager zum Aushängeschild des australischen Schwimmsports hat sie mit ihren Erfolgen, vor allem aber mit einer nun offeneren Art entscheidend mit beeinflusst. „Die Leute dachten, ich sei ein unglücklicher Mensch, weil ich nach meinen Rennen nicht gelächelt habe“, sagt sie. „Und wahrscheinlich war ich das auch.“

Jetzt lächelt sie nach ihren Rennen, „weil ich gelernt habe, dass es nichts bringt, eine Barriere gegen die Außenwelt aufzubauen“. Sie erklärt: „Wenn die Leute erkennen, dass du einfach du selbst und dadurch auch verletzlich bist, erst dann fangen sie wirklich an, dich zu schätzen.“ Und die allgemeine Wertschätzung steigt mit jedem Lächeln, mit jeder neuen Rekordmarke der Schwimmerin: Im vergangenen Jahr stellte Leisel Jones in ihrem Herrschaftsbereich, dem Brustschwimmen, fünf Weltrekorde auf. Woraufhin das US-Fachmagazin Swimming World sie 2006 zum zweiten Mal hintereinander zur „Weltschwimmerin des Jahres“ kürte – ein Titel, den von Australiens Wassergrößen zuvor nur Ian Thorpe in doppelter Ausfertigung verliehen bekommen hatte.

Mit seinem Rücktritt hat der 24-jährige Thorpe ein Vakuum im australischen Schwimmsport hinterlassen, nicht zuletzt als Werbe-Figur auf dem asiatischen Markt. Das Vakuum will Thorpe-Manager David Flaskas nun füllen – mit der Freistilschwimmerin Lisbeth Lenton und, natürlich, mit Leisel Jones. Mit der Frau, die mit 15 bei Olympia debütierte, die 2012 in London als erste australische Schwimmerin auf vier Olympiateilnahmen kommen könnte, und die inzwischen in alle erdenklichen Rollen schlüpfen muss. Bei den Kollegen in Queensland geht sie zum Beispiel als Kerl durch. „Sie finden, ich trainiere wie ein Junge“, lächelt Jones, die gleichzeitig als Nixe mit hellblauer Flosse, rosa Bikini-Oberteil und langem, blondem, lockigem Haar durch australische Zeitungen schwimmt. So wie einen Tag vor Beginn der WM, bei der sie im heutigen Finale über 100 m Brust ebenso unschlagbar erscheint wie auf der 200-m-Strecke. Und am Wochenende nimmt die Doppel-Weltmeisterin von Montréal, die ihre innere Ausgeglichenheit vor allem ihrer noch frischen Romanze mit dem Melbourner Footballspieler Marty Pask zuschreibt, dann auch noch die 50 m Brust in Angriff.

Eine ihrer Konkurrentinnen wird dabei die 25-jährige Janne Schäfer sein, die für den TV Jahn Wolfsburg startet, aber seit drei Jahren im englischen Bath lebt und trainiert. Gestern haben sich Schäfer und Jones schon einmal im „Susie O’Neill Pool“ getroffen, im letzten Vorlauf über 100 m Brust. Nebeneinander standen die große Deutsche und die drahtige Australierin auf den Startblöcken – für Schäfer ein beeindruckender Moment.