hirn, sand und korn von DIETRICH ZUR NEDDEN
:

In der Hand einen Becher frisch gebrühten Kaffee nahm ich gegenüber Doktor Grimm Platz. Von seinem einladenden Lächeln ermuntert, war ich einer zünftigen Kantinenkonversation nicht abgeneigt.

Was der Neurolinguist alsbald von einem seiner Patienten erzählte, war weder schockierend noch versetzte es mich in Erstaunen. Nichts Menschliches ist mir fremd, pflege ich jovial zu hüsteln. Zudem ist mir der Bereich, in dem sich die Hirnforschung derzeit tummelt, ein bisschen vertraut. Es ist ein Leichtes, in der Schädelzone, die, wie es heißt, 20 Prozent der Energie benötigt, auf marode Verhältnisse und somnambule Spezereien zu stoßen. Oder gestoßen zu werden. Nach Grimms grobem Umriss begann der Fall mich zu interessieren.

Jener Patient, nennen wir ihn H., hatte von Fehlerkonstanten in Gestalt eines Dschungels gesprochen, von dämonischen Paralleluniversen, die in Divisionsstärke sein Hirn bevölkerten. In Anbetracht dieser Größenordnung, entgegnete ich, könne man kaum von „seinem“ Hirn reden, was Grimm sogleich konzidierte. Er fuhr fort: „Dieser Mann klammert sich an ein Ego, das verlustig gegangen zu sein scheint. Das sich einer Wahrnehmbarkeit von außen entzieht. Pardauz perdu, um es salopp auszudrücken.“

Das Ich, erwiderte ich, werde doch von den Gehirnforschern zurzeit als ein Konstrukt, eine Schimäre verstanden: „Wir können es jeden Tag neu erfinden, sagt man.“ – „Ein zerbrechlicher Palast“, sagte Grimm, „mag sein. Doch das Ich von H. ist ein Nachtmahr und im Vergleich zur Gehirnmasse bestenfalls in der Größe eines Sandkorns vorhanden.“ Zunächst stimmte ich zu, warf jedoch einige dem willkürlichen Nachdenken gewidmete Momente später ein: „Wenn denn der Vergleich mit einem Sandkorn passend ist. Nicht nur, weil es sich mehr so Richtung Atomformat verkrümelt. Zudem dengelt irgendwo in der Bibel, wenn ich mich nicht waghalsig vertue, ein Sandkorn umher wie die Inkarnation der phrasenhaft zuletzt sterbenden Hoffnung.“

Grimm sendete weniger ein durchtriebenes Grinsen aus, eher ein Schmunzeln der Genugtuung. Indessen wurde ich abgelenkt. Meine Aufmerksamkeit wandte sich den beiden Greifvögeln zu, die seit einigen Bruchteilen von Minuten knapp unter der Zimmerdecke kreischend Runden drehten. Der eine mit spitz zulaufendem blechernem Schnabel und weit ausragenden, hartgummiartigen Flügeln, der andere bekleidet mit einem Fell, das dem maritimen Modell eines Lambswool-Pullovers glich. Dessen glühend gelbe Augäpfel bohrten sich in meinen bald fahrig zitternden, gleichwohl stieren Blick hinein, sobald er meiner gewahr wurde.

Um einiges erstaunlicher war, was folgte, kurz nachdem Doktor Grimm mich als H. identifiziert und das Wachpersonal gerufen hatte. Nach einem raschen Schub ganzheitlicher Verwandlung gesellte ich mich zu den bei- den Raub- und Teufelsvögeln. Schnurstracks flatterten wir ins Freie, in die Ferne, ins Fragmentale. Erleichtert stellte ich fest, dass weder Paralleluniversen noch Fehlerkonstanten mein nunmehr sandkorngroßes Köpflein besetzt hielten. Ich kreischte vor Vergnügen und habe Doktor Grimm nie wieder gesehen.