In der Kühle eines Versuchsfeldes

PROBENBESUCH Mit „Fallen“ versucht das Maxim Gorki Theater, ein näheres Bild von der Gewalt junger Männer zu zeichnen. Sebastian Nübling, Regisseur, und Ives Thuwis, Choreograf, nutzen ein Feld aus Sand als Bühne

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

„Entscheidet selbst.“ Das ist eine Regieanweisung und eine Forderung. Sebastian Nübling ruft sie im Probenraum in Weißensee den Darstellern von „Fallen“ zu. Neun junge Männer traben über ein Feld aus Sand, wenden an der Bande, traben zurück. Sie entscheiden, wann in diesem Bild, das zunächst vertraut nach Training aussieht, die Stimmung umschlägt und mit der Beschleunigung etwas von Angst und Härte einzieht.

Eine Übung später geht es wieder um so ein Kippmoment. Zwei laufen aufeinander zu, in der Mitte des Feldes springt der eine den anderen an, kurz blitzen Assoziationen zu Angriff und Attacke auf, da verändert sich die Dynamik wieder, Angreifer und Angesprungener tauschen die Position, aus dem Griff der Dominanz wird ein Halten und Schützen des anderen.

Es sind junge Schauspieler aus dem Ensemble des Gorki Theaters und Gäste, mit denen der Regisseur Sebastian Nübling und der Choreograf Ives Thuwis Material für „Fallen“ erarbeiten. Am 12. September wird Premiere sein, in einer Arena Open Air vor dem Gorki Theater. Unter den Darstellern ist Dimitrij Schad, der am Tag des Probenbesuches erfahren hat, dass er in der Zeitschrift Theater heute zum Nachwuchsschauspieler des Jahres gewählt wurde. Das Maxim Gorki ist Theater des Jahres geworden, ein Text von Sibylle Berg, von Nübling inszeniert, wurde zum besten deutschsprachigen Stück gewählt. Klar, dass an diesem Tag die Probe etwas kürzer ausfällt, ab 18 Uhr ist Party. „Geht feiern“, verabschiedet Nübling die Schauspieler.

Aber er und Ives Thuwis müssen mir noch erzählen, wie man an einem Tanzstück zum Thema Gewalt von jungen Männern arbeitet. Das Thema hat Shermin Langhoff den Künstlern vorgeschlagen, ein Ausgangspunkt waren gewaltsame Übergriffe im öffentlichen Raum; Fälle aus Berlin und München, die großes Aufsehen erregten. Kann man diese Gewalt mit Mitteln des Tanztheaters erklären, müssen da nicht eher Historiker und Soziologen ran?

Im Gespräch aber wird schnell klar, dass sie einen anderen Zugang suchen. Keine Fallgeschichten und keine moralischen Wertungen. Eher geht es in der „Kühle eines Versuchsfeldes“ (Nübling) um eine Beschreibung der Potenziale von Gewalt und die Möglichkeiten ihrer Transformation. Denkt man an die konkreten Überfälle, dann können auch die Täter oft nicht sagen, warum sie so gehandelt haben und das Nichtverstehen bestimmt auch den öffentlichen Diskurs. Mit dieser Leerstelle umzugehen, da Gedanken reinzugeben, ist ein Ziel des Projekts.

Natürlich wird in den Proben auch über Theorie geredet, zum Beispiel über das Ideal der Gewaltfreiheit. Wie jedes Ideal, meint Nübling, trägt es den Zustand des Nichterreichens mit sich und „je intensiver man es beschwört, desto mehr Risse bekommt es“. Dessen eingedenk findet er es eigentlich erstaunlich, wie viel zum Beispiel in einer Großstadt wie Berlin ohne Gewalt funktioniert. Zumal, wenn man daran denkt, wie präsent Gesten der Brutalität und Dominanz in der Fiktion ist, wie sehr auch Mittel des Entertainment. „Junge Leute finden manchmal etwas lustig, wo wir kaum hingucken können“, sagt Ives Thuwis.

All das wird besprochen, ohne doch illustriert zu werden im Stück. „Aber nichts, worüber man geredet hat, ist umsonst; es ist anwesend während man probiert“, denkt Thuwis. Seit fast 20 Jahren ist er Choreograf, der oft mit Jugendlichen und Schauspielern ohne professionelle Tanzausbildung arbeitet. Mit Nübling und dem Jungen Theater Basel zusammen inszenierte er vor drei Jahren in einem ähnlichen Setting „Sand“. Damals ging es um Gruppenbildung und Solidarität. Vor allem gab der sandige Grund, auf dem getanzt wurde, viele Metaphern her von schnell gebauten und leicht sich wieder verflüchtigenden Zusammenhalten. „Sand“ war ein großer Erfolg.

Auch diesmal hat sich das Team mit der Frage beschäftigt, was passiert mit der Energie derer, die in der Gesellschaft nicht gebraucht werden? Wo sollen sie hin mit ihrer Kraft? Für Thuwis sind solche Fragen ein Grund, warum er gerne im Theaterkontext arbeitet und Abstand zu einer Tanzszene halten will, die sich nur mit sich selbst beschäftigt.

Sebastian Nübling und Ives Thuwis sind knapp eine Generation älter als ihre Darsteller. Das macht einen Unterschied für das Bild, das man als Mann verkörpern will. Ein wenig gespielte Härte, mehr Betonen der Körperlichkeit, der Fitness und der Stärke gehören heute zum Selbstverständnis – grade auch unter Schauspielern. „Sie können schon einschüchternd sein“, sagt Thuwis.

Sechs Wochen Probenzeit, das ist nicht viel für ein so offen angelegtes Thema. Nervös macht das keinen. Schon erstaunlich.