Die unbekannten Verwandten

Seit die Erbgutanalyse erschwinglich geworden ist, forschen immer mehr US-Amerikaner nach ihren Wurzeln – mit überraschenden Ergebnissen

Gentests werden in den USA nicht nur von Einwanderungsbehörden immer häufiger bestellt. Auch als Mittel zur Erforschung der eigenen Abstammung gewinnen sie seit den 90er-Jahren stark an Popularität. Genlabore geben an, jährlich mehr DNA-Testaufträge zu erhalten. Vor allem bei nordamerikanischen Indianern und Afroamerikanern sind DNA-Tests oft das einzige Mittel, Ahnenforschung zu betreiben. Aufgrund von Vertreibung und Versklavung fehlen ihnen meist genealogische Anhaltspunkte wie Familienname und Geburtsregister. Im Zuge des afroamerikanischen „Tribal Movements“ lassen sogar ganze schwarze Kirchen DNA-Gruppen-Tests machen. Der Historiker David Brion Davis schreibt in seinem neuen Buch „Inhuman Bondage“: Bis zum Jahr 1820 waren insgesamt 8,7 Millionen Sklaven von Afrika in die neue Welt verschleppt worden. Zeitgleich lebten in Amerika nur 2,6 Millionen Weiße. Heute tragen rund 30 Prozent der männlichen Afroamerikaner ein europäisches Y-Chromosom in ihrem Blut. Getestet werden die Y-Chromosomen und die weiblichen Mitochondrien. Sie geben Auskunft, zu welchen Haplogruppen ein Mensch gehört. So lässt sich ermitteln, wie viel Prozent welcher Ethnie ein Mensch in sich trägt. Gleicht man diese Daten mit etwa dem Familiennamen über Datenbanken ab, ergeben sich manchmal treffsichere Funde lebender Verwandter. Ein Ethnic- DNA-Test, der keinerlei medizinische Aussagekraft hat, kostet zwischen 130 und 1.500 Dollar – je nach Gründlichkeit. AW

Von ADRIENNE WOLTERSDORF

Am Tag, als das Ergebnis kam, war der New Yorker Reverend Al Sharpton, 53, still und nachdenklich – was nicht oft vorkommt. Doch was die New Yorker Boulevardzeitung The Daily News da herausgefunden hatte, haute den quirligen schwarzen Bürgerrechtler und Pfingstler-Geistlichen um. Das Blatt hatte mit Hilfe eines auf Afroamerikaner spezialisierten Ahnenforschers herausgefunden, dass Sharptons Urgroßvater ein Sklave war.

Doch das war nur der erste Teil der unschönen Nachricht. Es kam noch schlimmer. Sharptons Urahn gehörte ausgerechnet der Familie des erzkonservativen Senators Strom Thurmond. Thurmond bewarb sich 1948, als „Dixikrat“, mit einem ultrarassistischen Programm um das Amt des US- Präsidenten.

Gewählt wurde er zwar nicht, doch Thurmond machte noch kurz nach seinem Tod im Jahr 2003 Schlagzeilen. Damals meldete sich zum Entsetzen der Angehörigen erstmals seine illegitime Tochter, Essie Mae Washington- Williams. Die hatte Thurmond als 22-Jähriger mit dem 16-jährigen schwarzen Hausmädchen der Familie gezeugt – und sie sein Leben lang verheimlicht, aber finanziell unterstützt.

Al Sharpton, der vor zwei Jahren kurzzeitig für das Weiße Haus kandidierte, sagte, dass die Enthüllung seiner Familiengeschichte der „Schock meines Lebens ist“. Die Geschichte der Thurmonds und der Sharptons sei die Geschichte der Schande Amerikas. „Die Schande ist, dass Menschen Besitztum anderer waren und dass ich der Nachfahre derjenigen bin, die Eigentum der Thurmond-Familie waren.“

Weder europäischstämmige, noch schwarze Amerikaner haben bislang ein übermäßig großes Interesse gezeigt, diese schmerzliche Vergangenheit aufzuwühlen. Bis heute ist die Geschichte der Sklaverei in den USA kaum aufgearbeitet. Kein Wunder also, dass der plötzlich auftauchende Schatten der Sklaverei zu tiefer Betroffenheit führt.

Im Familienstammbaum eines anderen prominenten Schwarzen forschte kürzlich auch der Washingtoner Genealoge William A. Reitwiesner. Er will herausgefunden haben, dass die weißen Vorfahren des schwarzen Präsidentschaftskandidaten Barrack H. Obama Sklavenbesitzer waren. Obamas Ururururgroßvater mütterlicherseits, George Washington Overall, besaß, wie andere Verwandte, laut dem Census von Kentucky aus dem Jahr 1850 zwei schwarze Sklaven.

Nicht für alle Afroamerikaner jedoch endet die Spurensuche so grotesk wie für Al Sharpton, der seit den 60er-Jahren für die Gleichberechtigung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten kämpft. Manche freuen sich.

Zum Beispiel Vy Higginsen. Sie ist an diesem Märzsonntag freudig-nervös. Gerade hat ihr Gospelchor in der Harlemer Halle noch ein Lied geschmettert, als sie die Verwandtenmenge rund um das Büfett um Ruhe bittet. Der neue Cousin sei angekommen, flüstert sie.

Higginsen, eine vor Energie strotzende Afroamerikanerin, die im New Yorker Stadtteil Harlem eine Schule für Gospelsänger betreibt, hatte diese besondere Familienfeier arrangiert, um ihren frisch gefundenen Verwandten zu begrüßen, den sie durch einen DNA-Test ausfindig gemacht hatte.

Herein kommt ein 76-Jähriger mit schwarzem Cowboyhut, glänzenden Lederstiefeln und Lederband um den Hemdkragen. Es ist der weiße Rinderfarmer Marion West aus Missouri. Er und seine Frau Mack waren noch nie in ihrem Leben in New York. Doch die schwarzen Harlemer jubeln, als sei er ein verlorener Sohn der Familie. „Begrüßt euren DNA-Cousin, willkommen in Harlem“, ruft Vy Higginsen und umarmt Herr und Frau West.

Marion Wests Vorfahren waren Sklavenbesitzer, und sein Großvater kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Sklavenhalter. Doch hier steht sein Enkel und wischt sich eine Träne von der Wange und betet, um sich für die neue Familie zu danken. „Gott, wir danken dir für diesen schönen Tag und die großartige Familie, die ich hier habe, du hast meine Gebete erhört, wir haben unsere Wurzeln gefunden, sie liegen in der DNA.“

Seitdem es bezahlbare DNA-Tests möglich machen, suchen immer mehr US-Amerikaner nach ihren familiären Wurzeln. Wie Vy Higginsen, die sich, seitdem sie 1977 die Fernsehserie „Roots“ („Wurzeln“) sah, Gedanken über ihre Ahnen macht, fragen sich viele Afroamerikaner nicht nur, ob ihre Urgroßeltern Sklaven waren, sondern auch, wem sie wohl gehörten. Higginsens Großmutter mütterlicherseits, Anna West, hatte Vy stets erzählt, dass die Familie auch indianisches Blut in ihren Adern habe. Vor zwei Jahren schließlich wollte es die resolute Vy wissen und bestellte einen „Ethno-Ancestry-Test“, also einen ethnisch definierenden DNA-Test. Von indianischen Genen keine Spur, Higginsen trägt vielmehr außer afrikanischen auch noch 28 Prozent europäische und 8 Prozent asiatische Erbanlagen.

Überrascht von diesem Ergebnis, überredete Vy Higginsen ihren Onkel James West, einen Y-Chromosom-Test machen zu lassen. Der zeigte, dass die Familie zu 52 Prozent europäischer Abstammung war – ein Schock, hatte sich die ganze Familie doch bislang stets als rein schwarz verstanden. Doch der DNA-Test legte eine Verwandtschaft zu den ersten britischen Siedlern des Kontinents in Jamestown nahe. Genauer: zu einem Thomas West. Der war 1577 geboren und später als Dritter Baron De La Warr bekannt geworden, der erste Gouverneur der kleinen Kolonie Virginia. „Ich hatte so was wie Kunta Kinte erwartet“, sagt Higginsen in Anspielung auf den afrikanischen Ahnen im Roman „Roots“ von Alex Haley. Stattdessen tauchte Baron De La Warr auf.

„Niemand ist hier hundertprozentig irgendwas“, sagt Vy Higginsen (schwarz). Sie hat gerade ihren neuen Cousin (weiß) aus Missouri zu Gast

Afroamerikanisch – das ist die Kultur, mit der sich Vy Higginsen, die ihr Alter nicht nennen möchte, ihr ganzes Leben lang identifiziert hat. Sie war prominenter Radio-DJ für einen Sender mit ausschließlich schwarzer Hörerschaft, sie verlegte ein Lifestyle-Magazin für Afroamerikanerinnen und arbeitete beim Magazin Ebony, das sich ausschließlich an eine schwarze Leserschaft richtet. Außerdem hat sie in den 80er-Jahren ein populäres Musical geschrieben, das sich mit dem Leben einer schwarzen Pop-Diva befasst –dem ihrer Schwester Doris Troy.

Gut 2.000 Kilometer westwärts, im tiefsten Missouri, war seinerseits der Rancher Marion West neugierig auf die Ahnenforschung geworden. Auch er ließ im Jahr 2005 einen DNA-Test machen und das Ergebnis in eine Datenbank einspeisen, die speziell Daten zur weitläufigen Familie West speichert. Das „West Family DNA Project“ sammelt weltweit Daten von Menschen, die den Familiennamen West tragen. Schnell wurde deutlich, dass ein gewisser James O. West, Vy Higginsens Onkel, und der Farmer einen gemeinsamen Urahn gehabt haben müssen.

„Hey, Kindchen, ich bin ein Rinderfarmer aus Poplar Buff in Missouri, und ich höre, wir sind Vettern“, soll Marion West dann am Telefon gesagt haben, als er Vy Higgins zum ersten Mal anruft. Ihr Name war als Kontakt bei den DNA-Daten ihres Onkels angegeben gewesen.

Er dachte, sie müsse schwarz sein. Sie dachte, er müsse weiß sein. Beide verloren darüber am Telefon kein Wort. West schickte ihr ein Foto. Higgins schickte ihm Informationen über ihre Gospelschule. West lud sie zu sich nach Missouri zum Thanksgiving-Fest ein. Sie dachte, er müsse verrückt sein. Schließlich, nach monatelangem Zögern, flog sie mit ihrer 22-jährigen Tochter zu ihm. „Als sie aus dem Flugzeug stieg, konnte ich in ihrem Gesicht sehen, dass sie eine West ist“, erzählt der Farmer. Er zeigte den Cousinen seine Ranch, die Schule, die er mit aufgebaut hat, und nahm sie mit hinauf auf den Hügel, auf dem er täglich betet. „Wir haben uns hingekniet und beide Gott gedankt, dass er uns zusammengeführt hat.“

„Es ist meine Geschichte und die Geschichte unseres Volkes hier“, sagt etwas später in Harlem Vy Higginsen. „Es ist die wahre Geschichte Amerikas, und die Leute fragen sich endlich: Wessen Blut rinnt in meinen Adern?“ Für sie aber ist die wichtigste Erkenntnis, dass „es in diesem Land keine Vollblüter gibt. Niemand ist hier hundertprozentig irgendwas.“ Marion West sorgt in Harlem noch für schallendes Gelächter, als er seiner neuen Familie von der Rinderzucht berichtet. „Ich habe mein ganzes Leben lang Rinder gezüchtet, und ich kann euch sagen, kreuzen ist besser“, sagt der Mann mit dem Cowboyhut. „Du kreuzt die schwarzen Angusrinder mit den anderen und heraus kommen bessere, gesündere Kälber.“