Geiseldrama in Manila endet gewaltlos

Aus Protest gegen die landesweite Bildungsmisere bringt der Leiter einer Vorschule in der Hauptstadt der Philippinen Dutzende Kinder in seine Gewalt. Er fordert bessere Bildungschancen für Slumkinder. Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, steigt

VON NICOLA GLASS

Kurz nach 19 Uhr abends Ortszeit öffneten sich gestern vor den live übertragenden Fernsehkameras in der philippinischen Hauptstadt Manila die Türen des Busses: Nach zehn Stunden kamen die kleinen Geiseln frei. Dutzende Hände streckten sich den 31 Kindern und zwei ebenfalls entführten Erziehern entgegen, um ihnen herauszuhelfen. Einige der Vier- bis Sechsjährigen wagten sich im Lauf des Tages immer wieder an die Fenster des Fahrzeugs vor: Sie schoben die blauen Vorhänge zur Seite und winkten nach draußen.

Der Bus war offiziell für einen Schulausflug angemietet worden. Stattdessen stand er gestern den ganzen Tag in der brütenden Hitze vor Manilas Rathaus: Der Leiter der Kindertagesstätte „Musmos“, Armando „Jun“ Ducat, hatte den Bus zusammen mit zwei Kumpanen entführt. Er drohte, das Fahrzeug mit Granaten in die Luft zu sprengen. Auf diese Weise wolle er gegen die wuchernde Korruption und die Bildungsmisere in den Slums protestieren, sagte Ducat im philippinischen Radio.

„Wenn ich die Zusicherung bekomme, dass diese Kinder eine gute Hochschulausbildung erhalten, werde ich mich ergeben“, hatte Ducat zuvor angekündigt. Zudem forderte er bessere Unterkünfte für deren Eltern. Er fügte hinzu: „Ich akzeptiere, dass ich jetzt ins Gefängnis komme, denn was ich getan habe, war gegen das Gesetz.“

Verzweifelte Eltern waren vormittags zum Tatort geeilt: „Bitte lassen Sie unsere Kleinen frei“, flehte eine Mutter. Frei kam nach drei Stunden vorerst nur eine Geisel: Ein Junge mit hohem Fieber wurde dem philippinischen Senator Ramon Revilla übergeben. Revilla hatte zuvor mit dem ihm persönlich bekannten Geiselnehmer verhandelt. „Ich habe Angst um die Kinder“, wurde die Großmutter des zuerst freigelassenen Jungen zitiert. „Aber ich denke, Jun Ducat tut das, damit die Behörden ihm zuhören.“

Ducat hatte die Kindertagesstätte „Musmos“ mit 145 Schützlingen vor vier Jahren in Manilas Armenviertel Tondo gegründet. Es wird vermutet, dass er die bislang kostenlose Versorgung nicht mehr gewährleisten kann. Für spektakuläre Aktionen ist der knapp 60-jährige Ducat berüchtigt: Im Jahr 1989 hatte er – mit Handgranaten-Attrappen bewaffnet – zwei Priester als Geiseln genommen, denen er vorwarf, Geld veruntreut zu haben.

Auf die massive Benachteiligung von Slumkindern habe er schon mehrfach aufmerksam gemacht, so Ducat gestern. Doch nie sei etwas passiert. Der Politik wirft er Korruption und Versagen vor. In der Tat gilt Manilas Stadtteil Tondo als einer der ärmsten der Hauptstadt. Insgesamt leben auf den Philippinen nach offiziellen Schätzungen etwa 1,5 Millionen Mädchen und Jungen auf der Straße. Mehr als die Hälfte aller Kinder im Inselreich, so heißt es, schaffe es über die zweite Klasse nicht hinaus. Die Armut ihrer Familien zwingt viele, mitzuarbeiten: Sie sammeln Müll, verkaufen Blumen, putzen Schuhe.

Beobachter klagen seit langem, dass die Philippinen seit dem Ende der Asienkrise von 1997 und 1998 so gut wie nichts in ihr marodes Bildungssystem investieren. Etwa 20 Prozent der insgesamt 82 Millionen Filipinos seien Analphabeten, außerdem wachse die Anzahl der Kinder, die keine Schule mehr besuchten. Von allen Staatsangestellten werden Lehrer am schlechtesten bezahlt, den Schulen fehlen Lehrbücher.

Die Kritiker monieren, dass Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo, der zudem Wahlmanipulation vorgeworfen wird, seit ihrem Amtsantritt 2001 nichts gegen die wuchernde Korruption und die Bildungsmisere unternommen habe.