Kafka hätte Platt geschrieben

Mit Döntjes und Ohnsorg-Humor hat sie nichts am Hut: Marlies Jensen aus Schleswig möchte das Plattdeutsche ins Ernsthafte zurückholen. Die alte Sprache verbindet sie mit einem anderen Leben, bescheiden und naturverbunden

Als Marlies Jensen, Jahrgang 1950, in der Fischersiedlung Holm in Schleswig groß wurde, war die Welt noch einfach: Mit den Jungs wurde Plattdeutsch gesprochen, schließlich würden sie einmal Fischer werden, so wie ihre Väter und Großväter. Mit den Mädchen aber sprach man Hochdeutsch – wegen der besseren Heiratschancen. Platt war die Sprache der armen Leute, und in der Schule rümpften die Lehrer darüber die Nase.

Als Marlies Jensen den Holm verließ, hatte diese Welt sich schon reichlich verändert: Ihre Klassenkameraden wurden inzwischen nicht mehr Fischer, und die Mädchen wollten nicht mehr nur heiraten. Bis sich Jensen wieder mit der Fischersiedlung zu beschäftigen begann, dauerte es bis in die 90er Jahre. Dazwischen hatte sie eine Verwaltungslehre absolviert und unter anderem als Assistentin für Björn Engholm gearbeitet. „Es war Plattdeutsch in mir“, sagt sie. Über das frühere Leben der Fischer schrieb sie ein Buch, über die kleine Siedlung am Rande der Schlei, über die schmalen Häuser rund um die Kirche und den Friedhof. Sie schrieb auf Plattdeutsch und übersetzte später ins Hochdeutsche. „Und damit sollte es eigentlich gut sein mit Platt“, sagt Jensen in Rückblick.

War es aber doch nicht: Beinahe zufällig begann sie damit, Gedichte von Erich Fried zu übersetzen. Dabei, erklärt die gebürtige Schleswigerin, die jetzt in das Haus ihrer Eltern auf dem Holm zurückgekehrt ist, habe sie mit der „Plattdeutsch-Szene eigentlich nichts am Hut“: Döntjes und Komödien á la Ohnsorg-Theater sind ihre Welt nicht. „Ich möchte das Plattdeutsche ins Ernsthafte zurückholen, wenn das überhaupt noch geht.“ Die alte Sprache hat für sie mit einem anderen Leben zu tun, mit Verbundenheit zur Natur und mit Bescheidenheit: „Eigentlich ist mein Thema Nachhaltigkeit.“

Ihr zweiter Ausflug in die „große Literatur“ galt Franz Kafka: Jensen übersetzte den „Bericht für eine Akademie“ – und findet das eigentlich logisch. Erzähler der Geschichte ist schließlich ein Affe, der auf einem Schiff in den Tierpark Hagenbeck gebracht wird: „Wie anders als plattdeutsch kann dieses Wesen zur Sprache gekommen sein?“ Und Kafkas präzise, klare Sprache habe die Übersetzung leicht gemacht, sagt Jensen – ganz so, als sei sie dafür gemacht gewesen.

Hochliteratur auf Platt – wer braucht das eigentlich? Marlies Jensen beantwortet diese Frage schnell: „Jeder, der sonst nicht den Weg dazu finden würde.“ Zu den Lesungen, die sie in ihrem Haus veranstaltet, kämen Leute, die freiwillig keinen Fried oder Kafka in die Hand nehmen würden: „Es ist ein neuer, ein anderer Zugang.“ Auch im Schulunterricht lassen sich ihre Bücher verwenden – schließlich steht Platt in Schleswig-Holstein neuerdings auf dem Lehrplan. Neue Übersetzungspläne hat Jensen zurzeit nicht. Obwohl: „Vielleicht Virginia Woolf“, sagt sie. „Oder etwas über Kiel: Keiner Frau sonst sagt man so direkt, wie hässlich sie ist.“ Esther Geißlinger