Nelken für die Genozid-Opfer

TÜRKEI Hunderte von Menschen gedenken in Istanbul und anderen Städten des Völkermordes an den Armeniern. Die Regierung bestreitet das Verbrechen immer noch

„Wir alle teilen den Schmerz“ – Aufschrift auf einem Transparent der Trauernden

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es ist kurz vor 17 Uhr auf dem zentralen Istanbuler Taksimplatz. Ein kleine Gruppe von Linksnationalisten hält Transparente in die Höhe und protestiert lärmend gegen die Anerkennung eines Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich.

Doch dieses scheinbar gewohnte Bild, das die Türkei am 24. April, dem Jahrestag des Genozids an den Armeniern in der Zeit von 1915 bis 1917, bietet, wird konterkariert von einer immer größer werdenden Gruppe unweit der nationalistischen Krakeeler. Rund um ein großes, schwarzes Transparent am Boden, auf dem in türkischer und armenischer Sprache „Wir alle teilen den Schmerz“ steht, versammeln sich in aller Stille immer mehr Menschen. Vor dem Transparent werden rote Nelken niedergelegt.

Als sich die auf mehrere hundert Menschen angewachsene Gruppe auf dem Platz niedergelassen hat, wird sie von einer Sprecherin der Gruppe „Sag stopp zu Rassismus und Nationalismus“ kurz begrüßt. Das Schweigen wird nur noch von drei Leuten unterbrochen, die Namen verlesen. Namen armenischer Intellektueller, Politiker und Künstler, die im April 1915 verhaftet und am 24. April in die Provinz deportiert wurden.

Diese scheinbar unspektakuläre Veranstaltung ist immer noch etwas Besonderes in dem Land, dessen Regierung und dessen Elite großenteils bestreitet, dass es einen Genozid gegeben hat. Doch dieses Dogma bröckelt nicht nur in Istanbul. Während vor einigen Jahren lediglich eine Handvoll Menschen in Istanbul erstmals öffentlich Schuld eingestand, fanden in diesem Jahr bereits in fünf weiteren Städten Kundgebungen statt. Außer in Istanbul versammelten sich Trauernde in Ankara, Izmir, Bursa, Bodrum und Diyarbakir.

In Istanbul gab es gleich zwei Veranstaltungen. Neben der Kundgebung auf dem Taksimplatz veranstaltete der Menschenrechtsverein noch eine Demonstration vor dem Museum für Islamische Kunst und Geschichte direkt neben Hagia Sophia und Blauer Moschee. Das heutige Museum war 1915 ein Gefängnis. Dort wurden die Istanbuler Armenier eingeliefert, bevor ihre Deportation vom Bahnhof in Haydarpasa aus begann.

Im Gegensatz zu der immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die bereit sind, eine Schuld einzugestehen, verharrt die offizielle Türkei immer noch in ihrer Abwehrhaltung. Die größte Tageszeitung, Hürriyet, zeigte Bilder von der zentralen Feier in Eriwan, wo einige Jugendliche eine türkische Fahne verbrannten.

Der türkische Außenminister Ahmed Davutoglu beschäftigte sich unterdessen mit der Stellungnahme, die US-Präsident Barak Obama in Washington abgegeben hatte. Obwohl Obama wieder nicht von Völkermord sprach, sondern wie 2010 den Begriff „große Katastrophe“ verwendete, reagierte die türkische Diplomatie mit scharfem Protest. Weil Obama anmerkte, Geschichtsverleugnung bringe das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien nicht weiter, und eine „vollständige, offene und wahre Anerkennung der Fakten“ anmahnte, verurteilte Davutoglu die „einseitige und falsche“ Sichtweise des US-Präsidenten.

Insgesamt stand in diesem Jahr angesichts der Ereignisse in den arabischen Ländern der Jahrestag des Völkermordes aber weit weniger im internationalen Fokus als sonst. Nur deshalb war es wohl möglich, dass der türkische Premier Tayyip Erdogan am Montag ein Denkmal für die Aussöhnung zwischen Armenien und der Türkei abreißen ließ. Die 35 Meter hohe Skulptur des Bildhauers Mehmet Aksoy in Kars war auf persönliche Anordnung Erdogans in den letzten Tagen für den Abriss vorbereitet worden. Trotz monatelanger Proteste begann am Montag die damit beauftragte Abrissfirma, die Statue zu zersägen.

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