Stirb langsam, Hauptschule

Hauptschulen abschaffen lautete die zentrale Forderung des Briefs der Rütli-Lehrer. Ein Jahr nach dem Schock, den ihr Hilferuf auslöste, hat sich zwar einiges verändert. Doch die Hauptschulen leben immer noch. Dabei gibt es – abgesehen von Vorurteilen – kaum Gründe, an der Schulform festzuhalten

Es sind lediglich 8 Prozent eines jeden Grundschuljahrgangs, die zu Hauptschülern gemacht werden

von ALKE WIERTH

Rütli, so steht es im Lexikon, ist der Name einer Bergwiese im Schweizer Kanton Uri, 502 Meter über dem Meeresspiegel, gelegen bei Seelisberg westlich des Urner Sees. Vermutlich ein idyllischer Ort, und vermutlich hätte der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) sein Rütli im vergangenen Jahr manchmal gern dorthin gewünscht. Denn längst steht Rütli für etwas ganz anderes, wenn auch ähnlich Sagenumwobenes wie diese Wiese, auf der im 13. Jahrhundert der Rütli-Schwur stattgefunden haben soll.

Der begründete die Schweizer Eidgenossenschaft, und die hält bis heute. Welche langfristigen Folgen dagegen die Berliner Rütli-Geschichte haben wird, ist noch nicht absehbar. Nicht, dass nicht einiges passiert wäre, ein Jahr, nachdem die Lehrer der Neuköllner Hauptschule die unerträgliche Lage dort öffentlich beschrieben haben. Nicht nur an der Schule selbst, die mit neuen, lässig auf Motorrädern anreisenden Leitern, mit Musikinszenierungen, Schul-T-Shirts und anderen Aktionen ihr Bild in der Öffentlichkeit wieder heller strahlen lassen will. Das ist durch die Fotos und TV-Übertragungen randalierender Schüler vor einem Jahr nämlich gründlich ruiniert worden. Auch für die 54 anderen Hauptschulen der Stadt wurde infolge des Rütli-Skandals jeweils eine Sozialarbeiterstelle aus dem Hut gezaubert – befristet zunächst, später wird man weitersehen.

Doch das eigentliche Anliegen der Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem mutigen Brief das Debakel nicht nur ihrer, sondern vieler Hauptschulen ans Licht brachten – man muss ihnen dafür danken –, ist noch lange nicht zu Ende diskutiert worden. Denn bei all den hektischen Aktivitäten, all den teils ans rütlischwurartig Sagenhafte grenzenden Debatten über Gewalt an Schulen, über renitente Migrantenkinder oder unfähige Lehrer, ist die Schlussfolgerung des Briefs, die seine AutorInnen ziehen, ziemlich in den Hintergrund geraten.

Sie forderten nämlich keineswegs mehr Sozialarbeiter, mehr Lehrer oder weniger Migranten für ihre Schule. Solche Maßnahmen, so heißt es in ihrem Schreiben, könnten höchstens kurzfristig dabei helfen, „die aktuelle Situation erträglicher zu machen“. Langfristig, so das Resümee der LehrerInnen, müsse „die Hauptschule aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung“.

Dass die Einführung von Gemeinschaftsschulen immerhin als Modellprojekt im Koalitionsvertrag beschlossen wurde, ist sicher dem Effekt zu verdanken, den der Rütli-Wirbel ausgelöst hat. Auch dass mit dem (ebenfalls sagenumwobenen) Professor E. Jürgen Zöllner (SPD) ein neuer Schulsenator in die Stadt kam, dürfte mit Rütli zusammenhängen.

Doch von einer konsequenten Entscheidung für die Auflösung der Hauptschulen oder gar des kompletten dreigliedrigen Schulsystems, kann deshalb noch lange nicht die Rede sein. „Stirb langsam“ lautet das Motto – der Filmtitel beschreibt treffend den mühseligen und langen Todeskampf der Loserschulen.

Die Grünen, die vor noch nicht allzu langer Zeit die Gemeinschaftsschule propagierten, haben erst leise, dann lauter Abstand genommen von diesem Projekt, das in bürgerlichen Kreisen Ängste um die Bildungschancen der eigenen Kinder auslöst. Immerhin: In ihrem Modell eines zweigliedrigen Schulsystems sollen die Hauptschulen mit den Realschulen fusionieren – ein Versuch, der in Berlin allerdings schon einmal mit sehr wenig Erfolg gesegnet war. Denn gerade mal zwei Realschulen fanden sich zu solchen Partnerschaften bereit.

In Hamburg geht die CDU derzeit mit dem gleichen Modell an die Abschaffung der Hauptschulen. Doch der bildungspolitische Sprecher der Berliner Christdemokraten, Sascha Steuer, singt nach wie vor deren Loblied. Und auch die SPD, die mit sichtbar wenig Begeisterung der Koalitionspartnerin Linkspartei ihr Gemeinschaftsschul-Modellprojekt zugestanden hat, hat mit ihrer Ankündigung, alle Hauptschulen zu Ganztagsschulen zu machen, gezeigt, dass sie deren komplette Abschaffung nun gerade nicht plant.

Dass sich bis auf die Linkspartei alle Parteien an die überholte Schulform klammern, liegt nicht daran, dass sie die Hauptschulen so toll finden. Sie wollen lediglich ihre überwiegend bürgerlichen Wähler vor deren Klientel beschützen. Denn es sind es gerade die bürgerlichen Bezirke, in denen es vergleichsweise wenige Hauptschulen gibt (siehe Seite 21). Drei sind es in Steglitz-Zehlendorf – noch, denn eine macht zum nächsten Schuljahr zu. Drei auch in Charlottenburg-Wilmersdorf, je sechs dagegen im proletarischen Neukölln und im alternativen Kreuzberg.

Dass die Kinder dort eben klüger sind, wäre eine mögliche Erklärung. Eher sind es aber wohl die Eltern, die bei einer Hauptschulempfehlung für ihre Sprösslinge doch die eigentlich ungeliebte Gesamtschule vorziehen – und die nötige Unterstützung für einen besseren Abschluss leisten oder finanzieren können. An den Hauptschulen verbleiben dagegen überwiegend diejenigen, die solche Möglichkeiten aufgrund von sprachlichen, finanziellen oder Informationsdefiziten nicht haben: Arme, Ungebildete, Migranten. Das macht die Hauptschulen zu Restschulen – besser macht es sie nicht.

Es gibt, von Vorurteilen abgesehen, kaum Gründe, an der ungeliebten Schulform festzuhalten. Tatsache ist, dass Hauptschulen die teuersten Schulen des Schulsystems sind. Und tatsächlich bieten ja nicht wenige gute Fördermöglichkeiten für Kinder mit entsprechendem besonderen Bedarf. Doch welche Gefahren drohten wirklich, wenn diese Kinder andere Schulen besuchten?

Es sind lediglich 8 Prozent eines jeden Grundschuljahrgangs, die zu Hauptschülern gemacht werden. Das sind pro Grundschulklasse im Durchschnitt zwei Kinder. Die mitsamt ihrer Schwächen und Probleme in gemischten Klassen integrierter Schulformen aufzufangen, sollte eigentlich möglich sein – zumal, wenn die bislang an die Hauptschulen fließenden Gelder für besondere Förderung neu verteilt werden.

Doch dem stehen nicht zuletzt die Sagen und Legenden im Wege, die im Zuge der Rütli-Geschichte um Hauptschulen und insbesondere deren Klientel entstanden sind. Die Bilder an Schulzäunen rüttelnder wilder Jungmänner türkischer und arabischer Herkunft haben sich tief ins Gedächtnis der bildungsbewussten Deutschen eingegraben. Da helfen auch rosa Rütli-T-Shirts und all die anderen Aktionen nicht, die doch eigentlich zeigen, dass auch Rabauken ein ganz anderes Gesicht haben – wenn man sie nicht in die Ecke drängt.