piwik no script img

Archiv-Artikel

Blindenstock mit Antenne

EU-Wissenschaftler nutzen ausgediente Transponder aus der Tierüberwachung zur virtuellen Blindenführung. Am Lago Maggiore entsteht Europas erster virtueller Weg für Sehbehinderte. Die Chips aus den Kuhmägen weisen Blinden den Weg

Dazu werden die im Schlachthof anfallenden RFID-Transponder recycelt

VON THOMAS A. FRIEDRICH

Mit kreisenden Stockbewegungen tastet sich Francesco Rizzo mit einem Blindenstock über den mit Funkchips versehen Fußgängerüberweg am Bahnhofsvorplatz die Treppe hinunter bis zur Fähranlegestelle in Laveno am Lago Maggiore. Im Ohr trägt der 31-Jährige ein Headset, das mit einem Personal Digital Assistant (PDA) in der Hand drahtlos verbunden ist. Der Blindenstock ist kein gewöhnlicher Stock, sondern enthält eine Antenne, die Rizzo von einem Transponder im Boden zum nächsten geleitet. Im Ohrhörer dirigiert ihn eine weibliche Stimme: „Attenzione, lavori in corso“ – „Vorsicht Bauarbeiten im Gang“. Jeder Funkchip im Boden lässt sich anhand seiner Nummer eindeutig zuordnen und dient als elektronische Wegmarkierung. Rizzo ist nicht sehbehindert, sondern Techniker der Gemeinsamen EU-Forschungsstelle (GFS) im oberitalienischen Ispra.

Die GFS fungiert mit seinen rund 1.500 Forschern als wissenschaftlicher Dienst für die EU-Kommission sowie das Europäische Parlament. Geht es um Grenzwerte beim CO2-Ausstoß von Autos, den Nachweis von gentechnisch veränderten Organismen oder Ersatzmethoden zu Tierversuchen, liefern Ispra-Wissenschaftler entscheidende Erkenntnisse für die Politik im Vorfeld der EU-Gesetzgebung.

So waren es die EU-Wissenschaftler vom 180 Hektar großen Science Campus in Ispra, die während der BSE-Krise nicht nur die Entwicklung von Schnelltests vorantrieben, sondern auch ein chipbasiertes Erkennungssystem für Nutztiere entwickelten. Sie kreierten auch das satellitengestützte Tiererkennungssystem IDEA. (Lifestock Electronical Identification), um das Filetstück im Supermarkt bis zum Tier auf dem Bauernhof zurückverfolgen zu können.

Diese zur Identifizierung von Schafen, Ziegen und Rinder dienenden acht Zentimeter großen, im Magen der Tiere befindlichen Keramik umhüllten Speicherchips fallen in Schlachthäusern inzwischen millionenfach an. Sie werden aber nicht wertlos. Graciano Azzalin vom GSF-Institut für den Schutz und die Sicherheit des EU-Bürgers (IPSC) kam auf die zündende Idee, mit den RFID-Chips sehbehinderten Menschen durch elektronische Markierungen im Boden sichere Wege zu weisen.

Eines der neuen Zauberwörter der digitalen Welt heißt RFID. (Radio Frequenze Identification). Dabei handelt es sich um Funkchips, die ohne eigene Batterie Information von wenigen Zentimetern bis zu mehreren Metern senden können. Sie werden unter anderem in die neuen elektronischen Reisepässe zur Identifizierung persönlicher Merkmale eingebaut.

An der neuen Seepromenade in Laveno am Lago Maggiore entsteht derzeit Europas erster virtueller Weg für Sehbehinderte mit RFID-Technologie. Das EU-geförderte Projekt Sesamonet (A Secure and Safe Mobility Network) ist ein Ableger von IDEA. Sesamonet-Projektleiter Marco Sironi erklärt: „ Die Idee ist es, damit einen virtuellen Weg zu schaffen, den Sehbehinderte problemlos entlanggehen können.“ Die Funkchips senden Signale aus, die mit einer elektronischen Landkarte mit dem Empfangsgerät des Blindenstocks verbunden ist. Die Antenne im Blindenstock liest die Markierungen und gibt sie an eine Datenbank im Minicomputer weiter. Der wiederum setzt die Position des Sehbehinderten in Worte um. Entsprechende Infos sollen von einer Webseite heruntergeladen und auf einem normalen Kleinstcomputer gespeichert werden. Dieser trägt der Sehbehinderte mit sich und kann mit dem Auffinden des ersten Transponders so den markierten Weg sicher ohne fremde Hilfe entlanggehen.

„Wir wollen auf einem ein Kilometer langen Weg entlang der Seepromenade Funkchips als elektronische Wegmarkierung in den Boden einbringen“, erklärt Sironi. Dazu werden die aus dem Schlachthof anfallenden RFID-Transponder recycelt.

Nicht nur Blinden oder Rollstuhlfahrern könnte diese Technologie Wege erleichtern helfen. Auch Nichtbehinderten eröffnen RFID vielfältige Orientierungshilfen in unübersichtlichem Umfeld. Die neue Generation der Mobiltelefone werden Funkchips zum Einlesen von Daten haben. So könnten sich Handynutzer durch das Einlesen von Daten via Funkchip in unübersichtlichen Gebäuden, in Messehallen oder am Flughafen leichter zurechtfinden.

Zunächst konzentrieren sich die Ispra-Wissenschaftler auf den Feldversuch am Lago Maggiore. Lavenos Bürgermeister Enrico Rodari will Sesamonet jedoch nicht auf die neu ausgebaute Uferpromenade beschränken. Der 9.000 Einwohner zählende malerische Ort vis-à-vis dem Schnee bedeckten Monte Rosa bietet hierfür eine besondere Infrastruktur. Mit der Bahn könnten Sehbehinderte aus ganz Europa anreisen. Gleich gegenüber dem Bahnhofsvorplatz befindet sich die Fähranlegestelle. Neben einem Spaziergang am See könnten die mit RFID ausgestatteten Besucher auch mit der Fähre in die gegenüberliegende Einkaufsstadt Intra gelangen. Erste Gespräche mit dem Amtskollegen laufen bereits.

Im April soll der ein Kilometer lange Promenadenweg vom Bahnhof an der Fähre vorbei bis zum Jachthafen am Ende der Bucht fertiggestellt sein. Dann können von Mailand aus mit dem Zug aus ganz Europa Sehbehinderte in den Genuss dieser neu entwickelten RFID-Innovation kommen. Bis dahin werden auch die speziellen Blindenstöcke mit einer Aufladekapazität von bis zu zwölf Stunden verfügbar sein. Der elektronische Stock kostet rund 200 Euro. Zusammen mit belgischen und italienischen Sehbehindertenvereinen will Laveno einen elektronischen Meilenstein für Behinderte am blauen Lago Maggiore markieren.