Über Bande gespielt

In ihrer Ausstellung „Die Erfindung der Einfachheit“ nobilitiert die Wiener Albertina das Biedermeier. Dazu datiert sie den Beginn der ästhetischen Moderne in die Restaurationszeit zurück. Doch modern war das Biedermeier zunächst nur politisch-ideologisch – in seiner Abwehr der Moderne

Mit ihrer Rehabilitierung des Biedermeiers entlastet die Schau uns alle. Auch wir können nicht mehr einfach in die Fünfziger

von ISOLDE CHARIM

Es gibt zwei Arten von wichtigen Ausstellungen: solche, die dem Zeitgeist etwas entgegenhalten, und solche, die ihn befördern. Anders gesagt: jene, die eine Analyse der Gegenwart liefern, und jene, die deren Symptom sind. Die Biedermeier-Schau der Wiener Albertina gehört eindeutig zur zweiten Kategorie.

Nicht, dass es nicht viele Biedermeier-Schauen gäbe, aber diese hat eine These, die wie ein Resonanzboden für gegenwärtige Befindlichkeiten funktioniert: Sie erklärt das Biedermeier zum eigentlichen Beginn der Moderne. Belegt wird diese These durch eine Vielzahl an Exponaten, die nur zum geringen Teil Kunstwerke im engeren Sinn sind. Tatsächlich präsentiert sich die Schau wie ein Streifzug durch einen Schauraum für biedermeierliches Interieur von Geschirr über Sitzmöbel bis hin zum Papierkorb – was bereits Teil des Themas ist. Denn dieses lebt davon, auf der Ebene der Alltagsgegenstände abgehandelt zu werden, so wie von dem gemeinsamen Nenner aller Exponate: einer auffallenden Einfachheit der Form. Von daher auch der Untertitel der Ausstellung: die Entdeckung der Einfachheit, was sich ebenso auf die Epoche selbst wie auch auf uns beziehen lässt.

In allen Texten zu dieser Ausstellung steht irgendwo der Satz: Bisher war „bieder“ ein Schimpfwort. Das „bisher“ zeigt an, dass der Albertina eine Zäsur gelungen ist. Bisher war „bieder“ tatsächlich ein zuverlässiges Kriterium, um eine moralische, ästhetische, politische und existenzielle Unterscheidung festzumachen. Bieder – das war feig, hässlich, reaktionär und langweilig. Es war nicht nur der Gegensatz zu allem, was erstrebenswert schien, es war auch die Bestätigung dafür, dass es noch relevante Differenzen gibt. Dann kam, was Susan Sontag die Camp-Kultur nannte. Man begann das Spießigste ironisch, spielerisch umzudeuten. Während verbohrte Politniks noch an alten Differenzen festhielten, hatten die Ästheten längst die bewusst gewählte Biederkeit zur avanciertesten Unbiederlichkeit erklärt.

Irgendwann hat sich aber auch diese Geste leergelaufen, ist auch Camp langweilig geworden – ohne dass sich ein neuer Sturm und Drang abgezeichnet hätte. Ja, schlimmer noch – irgendwann saß eine ganze Generation mitten drin in der Biederkeitsfalle. Bis Klaus Albrecht Schröder (der Direktor der Albertina) kam und uns da rausholte. War bieder zuerst ein Schimpfwort und dann ein Exotikum, so ging die Albertina einen Schritt weiter. Die Differenz wird weder gesetzt noch übersprungen, sondern schlichtweg aufgehoben – indem das Biedermeier selbst modern wird.

Bevor wir unsere Erlösung ungehemmt feiern und schamlos bieder sind, sollte man aber doch fragen, wie die Schau zu ihrer leitmotivischen Behauptung kommt. Dazu setzt sie zwei Prämissen. Sie beschränkt den Blick auf die Ästhetik des Biedermeiers. Und sie setzt die dabei entdeckte Formenreduktion mit Moderne gleich. Nun ist die Schlichtheit und Geradlinigkeit der präsentierten Objekte tatsächlich frappierend. Ja, insgesamt ist die Schau wie ihr Objekt: hübsch, schlicht, idyllisch und – unpolitisch. Denn die Analogie der Formen, die hier als modern ausgegeben wird, blendet den historischen Kontext aus: die Restauration.

Entgegen der landläufigen Meinung, diese sei eine Wiederherstellung der Verhältnisse vor der Französischen Revolution, ist sie vielmehr die Herstellung einer neuen Ordnung. Denn das Gottesgnadentum hat Revolution und Bonapartismus nicht unbeschadet überstanden. Hat früher der Monarch mit seinem Körper auch unmittelbar die Erhabenheit der politischen Einheit, das Volk in seiner Gesamtheit verkörpert, so hat er durch die historischen Einbrüche diese Dimension seiner Exzellenz verloren. Sie ließ sich nicht restaurieren. Deshalb konnte die monarchische Ordnung nicht mehr auf dem Glauben ihrer Untertanen aufbauen. Er musste durch Zwang ersetzt werden. Beredtes Zeugnis dafür sind Metternichs berühmte Karlsbader Beschlüsse. Das vielzitierte Bild von Franz I. am Schreibtisch statt am Thron ist kein Versprechen, sondern eine Drohung: Er hat die Transzendenz, die der Monarch ehedem verkörperte, gegen die Bürokratie, der er nunmehr vorstand, eingetauscht.

Das Ende der klassischen Repräsentation betrifft aber nicht nur den Körper des Königs, der auf seine Natürlichkeit reduziert wurde. Es betrifft auch alle Objekte – vornehmlich in den Herrscherhäusern. Da ist ein Stuhl nunmehr ebenso ein Stuhl wie in jeder Bürgerwohnung. Es gibt keine „zwei Körper der Gegenstände“ mehr, durch die diese an der Transzendenz des Monarchen teilhaben. Nunmehr, wo die Repräsentation die Dimension der Erhabenheit verloren hat, wo sie durchgestrichen wurde, sind auch die Dinge auf ihre Alltagsgegenständlichkeit reduziert. Ein Tisch ist nur mehr ein Tisch und nicht mehr gleichzeitig auch eine Reliquie der monarchischen Sakralität. Auch die Dinge haben eine Säkularisierung erfahren. So wie die Macht auf ihre sichtbare Vorherrschaft reduziert wurde, die sie nur mehr durch Zwang aufrechterhalten kann, so verhält es sich auch mit den Dingen. Sie sind allein durch ihre Funktionalität bestimmt. Wir begegnen hier dem Ende der klassischen Repräsentation, die sich nicht mehr restaurieren ließ.

Die Entdeckung der Einfachheit bedeutet hier die Zurückgeworfenheit in die Immanenz einer Gesellschaft, die nicht mehr über einen göttlichen König an der Transzendenz partizipiert. Eine Immanenz, in die man nunmehr gestoßen wurde, nachdem deren Aneignung durch die Revolution gescheitert ist. In dieser gilt es sich jetzt einzurichten – im übertragenen wie im Wortsinn.

In diesem Zusammenhang muss man auch die zweite These der Ausstellung sehen, wonach das Biedermeier in seiner Einfachheit entgegen der landläufigen Meinung seinen Ausgang nicht im Bürgertum, sondern beim Adel genommen hat. Der Adel entdeckt die Einfachheit, nachdem er den privilegierten Zugang zur Erhabenheit verloren hat. Wobei es ja kein Geheimnis ist, dass die Einfachheit sehr vieldeutig sein kann. So kann sie etwa als neues Distinktionsmerkmal funktionieren. Als solches wird die Bescheidenheit dann zur höchsten Form der Anmaßung und des Luxus. Aber damit ist sie dem Manierismus näher als der Moderne. Kurz – die Formenreduktion ist noch keine Garantie für Modernität.

Zugleich kann diese Schlichtheit aber auch das typischste biedermeierliche Element möblieren: die Idylle. Diese dient der Abwehr einer Moderne, die sich als Drohung bereits ankündigt: Industrialisierung, Massenproduktion, Erschütterung der traditionellen Werte. Paradoxerweise ist es nicht die Reduktion der Formen, sondern gerade dieses Phänomen, das genuin modern ist. Der Rückgriff auf vormoderne Vorstellungen ist eine moderne Strategie zur Abwehr der Moderne. Wie etwa der Nationalismus. Ernest Gellner hat gezeigt, dass der Rückgriff auf atavistische Gemeinschaftsvorstellungen, wie sie der Nationalismus macht, nur in modernen Gesellschaften zustande kommt. Die Modernität des Biedermeiers wird so quasi über Bande gespielt.

In dieser doppelten Version, die teilweise fragliche Modernität der Formenreduktion und die vertrackte Modernität der Flucht vor ihr, in dieser begrifflichen Unschärfe der Ausstellung liegt aber das Geheimnis ihres Erfolges. Mit ihrer Rehabilitierung des Biedermeiers entlastet die Schau uns alle. Denn auch wir können nicht mehr einfach in die Fünfziger zurück, wir können diese Ordnung, in der man ungebrochen bieder sein konnte, nicht restaurieren. Wir können uns heute in der Biederkeit nur einrichten, wenn diese die Moderne, durch die wir – einzeln und gesellschaftlich – durchgegangen sind, in sich trägt und aufbewahrt. Dann und nur dann muss sie nicht mehr augenzwinkernd, campy rezipiert werden. Man braucht sie nicht mehr zu ironisieren, um sich guten Gewissens dazu zu bekennen.

Die Albertina leistet, dass auch Ulf Poschardt in Vanity Fair jubeln kann: Biedermeier ist cool. Man kann sich nach dieser Ausstellung entscheiden: entweder für die glamouröse biedermeierliche Moderne à la Poschardt oder für die moderne Biedermeierlichkeit einer alternativen, religiösen oder bescheidenen Lebensform. Man kann auf moderne Weise bieder sein, wenn man die Feier der reduzierten Formen wählt. Oder man kann auf biedere Weise modern sein, wenn man eher der Idylle den Vorzug gibt. Bleibt allerdings die Frage, was eigentlich mit der Moderne passiert, wenn diese im Biedermeier versinkt.

Bis 13. Mai, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 49,80 €; ab 8. Juni bis 2. September, DHM Berlin, Unter den Linden