Urlaub für den First Pitch

Wenn sich die Baseballvereine in den USA mit den mehrwöchigen Spring Trainings auf die Saison vorbereiten, verpasst das Publikum keinen einzigen Homerun

AUS FLORIDA THOMAS WINKLER

Der Frühling riecht nach frisch gemähtem Gras und Hotdogs. Er schmeckt nach dünnem Bier und Popcorn. Der Frühling ist grün. Grün wie ein dreieckiges Stück überaus gepflegten Rasens in Bradenton, Florida. Vom Golf von Mexiko weht eine frische Brise herüber, die Möwen schweben im Tiefflug über das McKechnie Field, und die Pittsburgh Pirates werden gerade böse verprügelt.

Es ist nur ein Vorbereitungsspiel, auf dem Platz stehen Ersatzspieler und hoffnungsvolle Talente, gut 6.400 Zuschauer stöhnen bei jeder misslungenen Aktion, aber es könnte nicht wundervoller sein. Man blinzelt in die Sonne, winkt den Bierverkäufer heran und lauscht dem seltsam trockenen Knacken nach, das zu hören ist, wenn ein Baseball kurzfristig Bekanntschaft mit einem Schläger aus Ahornholz macht. Doch es ist nur ein Ball, den der Schlagmann nicht richtig getroffen hat, der immer höher steigt und sich schließlich über der Zuschauertribüne wieder senkt. Ein Glücklicher fängt ihn, streckt den Arm mit der Beute in die Luft und lässt sich beklatschen. Dann versinken die Ränge wieder in diesen Zwischenzustand aus entspannter Erwartung und liebevollem Desinteresse, der jedes Baseballpublikum auszeichnet.

Baseball ist ein sehr unzeitgemäßes Spiel. Ein Spiel, das von mehr als 150 Jahre alten Traditionen lebt, von seinen vielen Legenden und Anekdoten. Baseball ist ein gemächliches Spiel. Ein Spiel, das, würde es heutzutage erfunden, keine Chance hätte, sich auf dem Markt durchzusetzen. Zu langsam, zu viel Leerlauf, zu wenig Action, nicht fernsehgerecht. Das Dreieck, das das Spielfeld bildet, ist – zumindest gedacht – an einer Seite ins Unendliche verlängert. Keine Uhr begrenzt die Spieldauer, theoretisch wenigstens könnte ein Baseballspiel niemals enden.

Baseball ist ein Spiel, mit dem man alt werden kann. Oben über den Rängen thronen die Presseräume. Manch einer der ledrigen alten Männer, die in Shorts und Poloshirt durch die Gänge schlurfen, sieht aus, als hätte er die Pirates schon in ihrer ersten Saison 1887 als Reporter begleitet.

Baseball, das ist die „National Pasttime“, der nationale Zeitvertreib. Der Sport, der mit der jungen Nation entstand und mit ihr wuchs. Baseball ist, wie hierzulande der Fußball, auch das Versprechen, dass es jeder schaffen kann mit ein bisschen Glück und viel Einsatz. Baseball, das ist nicht nur ein Spiel, es ist das amerikanische Spiel. Wenn ein Amerikaner vom Ball Game spricht, dann meint er das Baseballspiel heute Nachmittag. „Take Me Out to the Ball Game“, das Lied, das bei jedem Spiel im siebten Inning vom Publikum gesungen wird, ist die heimliche Nationalhymne. Und für den traditionellen „First Pitch“, den ersten Wurf eines Spiels, standen schon Präsidenten und Filmstars auf dem Werferhügel.

Heute, in Bradenton, wirft Brandon Powers den ersten Pitch. Der 29-Jährige war acht Monate im Irak. Dieser eine Moment gehört nur ihm. Er ist aufgeregt, er hat Angst, den Ball in den Sand zu setzen. Alles geht gut, freundlicher Applaus brandet auf. Brandon Powers ist wieder zu Hause.

Achtzehn der insgesamt dreißig Major-League-Klubs bereiten sich in Florida auf die neue Saison vor, zwölf in Arizona. Gespielt wird in kleinen Stadien bei intimer Atmosphäre und zu erschwinglichen Eintrittspreisen. Nirgendwo sonst können die Fans ihren Stars, die bis zu 25 Millionen Dollar im Jahr verdienen, so nahe kommen, wie es hier möglich ist.

Das McKechnie Field in Bradenton mit seinen Holzdächern über den niedrigen Tribünen sieht nicht nur aus wie ein Stadion aus den 1930er-Jahren, sondern ist auch so eng. Wenn die Spieler aus der Umkleidekabine aufs Feld laufen, können die Kinder, die um Autogramme bitten und oft erhört werden, sie fast berühren. Die Väter, so verlangt es die Tradition, kaufen dem Nachwuchs noch ein Päckchen Cracker Jack. Die Mischung aus Popcorn und Erdnüssen ist überzogen mit Karamell und eine extrem klebrige Angelegenheit, aber sie gehört zum Baseball wie das detailverliebte Vergleichen von Statistiken. Im Frühling fühlt sich der amerikanische Nationalsport zwei kurze Monate lang wieder so an wie in den goldenen Zeiten zwischen den Weltkriegen. Im Frühling sieht Baseball wieder so aus wie auf den Bildern von Babe Ruth und Joe DiMaggio, über die sich lange schon Patina gelegt hat.

Eine Patina, die nach dem Spiel schnell abblättert. Das McKechnie Field liegt in einer eher zwielichtigen Gegend. In manchem Vorgarten hat ein ausgeschlachtetes Auto seine letzte Ruhestätte gefunden, von den Wänden der „Highland Apartments“ blättert die Farbe. Die Besitzer der niedrigen Eigenheime bessern den Sozialhilfesatz auf, indem sie einen Parkplatz auf ihrem Hinterhof für die Dauer des Spiels verkaufen. Preis: je nach Entfernung zum Stadion fünf bis zehn Dollar.

Das Spring Training ist mittlerweile nicht nur für die Anwohner eine lukrative Angelegenheit. Die kleinen Stadien, in denen sonst unterklassige Teams spielen, sind meist gut gefüllt. Die Testspiele der Los Angeles Dodgers in Vero Beach sehen regelmäßig 15.000 Zuschauer. Als die Dodgers 1955 noch in New York beheimatet waren, wurden sie zwar Meister, aber sie hatten bei ihren Heimspielen in Brooklyn, bei denen es wirklich um etwas ging, einen schlechteren Zuschauerschnitt.

450 Millionen Dollar, schätzt der Staat Florida, bringen die Vorbereitungslager jedes Jahr ins Land. Tausende von Baseballfans reisen aus dem kalten Norden an, geben ihre zwei Wochen Urlaub dran und reisen von Spiel zu Spiel. Der Rest des Publikums besteht vor allem aus Rentnern, die ihre Verbundenheit mit den Philadelphia Phillies oder den Cincinnati Reds mit in den Ruhestand genommen haben. Auf sie zielt die Bandenwerbung lokaler Sponsoren vom örtlichen Bioladen bis zum Versicherer.

Den Marktfaktor Baseball hat man vor allem in Arizona entdeckt. In den letzten Jahren ziehen nicht nur immer mehr Rentner in den Wüstenstaat, sondern auch Baseballteams. Die schließen ihre Trainingsstätten in Florida zugunsten der neuen, schicken Stadien, die in Arizona gebaut werden. Ab 2009 werden auch die Traditionsteams Cleveland Indians und Los Angeles Dodgers nach Westen abwandern. Neben den aus öffentlicher Hand finanzierten Spielstätten locken auch kurze Wege: Fast alle Klubs sind in und um Phoenix herum stationiert. In Florida dagegen müssen die Profis oft mehrstündige Busfahrten ertragen, die von den Trainingszeiten abgehen.

Doch die beliebtesten Klubs verbleiben vorerst in Florida. Die Spiele der New York Yankees und der Boston Red Sox sind stets schon zu Beginn des Spring Trainings im Februar ausverkauft. Wer Glück hat, ergattert an der Tageskasse eine der wenigen Restkarten. Im Legend’s Field in Tampa, einer kleineren Ausgabe des legendären Yankee Stadium in der Bronx, finden sich selbst an Tagen, an denen die Yankees auswärts spielen, hunderte von Fans ein, um das verwaiste Trainingsgelände zu besichtigen. Im „Legend’s Room“ deckt sich der Yankees-Fan ein mit dem Yankee-Bleistift (1 Dollar), dem Yankee-Teddy (10 Dollar) und dem Yankee-Monopoly-Spiel (54,98 Dollar). Ein von Yankee-Star Alex Rodriguez signierter Ball kostet 510 Dollar. Exklusiver ist nur noch die diamantenbesetzte Yankee-Armbanduhr für 1.999,98 Dollar.

Vor dem Souvenirladen wartet ein untersetzter Mann im grauen Yankee-T-Shirt. Er hätte noch vier Karten für das morgige Spiel. Er hat da einen Bruder, der kennt jemanden bei den Yankees, und der Bruder, der braucht die Karten nicht mehr. Mit 50 Dollar pro Stück wären wir dabei. Wie viel die Karten denn regulär gekostet hätten? Den halben Preis, sagt der Schwarzhändler lächelnd, 25 Dollar.

Dann lieber zweieinhalb Autostunden Richtung Süden auf der Interstate 75. In Fort Myers spielen die Minnesota Twins gegen die Baltimore Orioles. Kurz vor Spielbeginn gibt der Stadionsprecher die aktuelle Temperatur in Minneapolis bekannt: 16 Grad Celcius lösen bei fast 30 Grad Ortstemperatur zufriedenen Jubel aus. Kurz darauf wird ein Autokennzeichen durchgesagt: „Wenn Sie der Eigentümer dieses roten Mazda sind, dann sind Sie ein ganz spezieller Mensch“, dröhnt es durch die Lautsprecheranlage, „Sie haben das dreckigste Auto auf dem ganzen Parkplatz. Und gewinnen deshalb einen Gutschein für eine Autowäsche von King’s Auto Spa.“

In der allerletzten Reihe, unter dem schattigen Tribünendach, sitzen vier alte Herren. Von dort oben hat man den besten Überblick. Dort oben kann man am besten fachsimpeln. Was wirft der Pitcher für einen Wurf? Taugt der Shortstop was? Erinnert der Schwung des Leftfielders nicht an den von Willie Mays? Oder eher an den von Lou Gehrig? Und die vier Experten sehen tatsächlich so aus, als hätten sie die Legenden, mit denen sie den Nachwuchs da unten auf dem Feld vergleichen, womöglich noch selbst dereinst hier trainieren sehen.

Im Hier und Jetzt gehören die Twins mal wieder zum Favoritenkreis. Die Orioles dagegen haben in den letzten neun Jahren stets viele Spiele verloren und wenige gewonnen, und das wird nach Ansicht der Experten in der letzten Reihe auch dieses Jahr so bleiben. Das allerdings spielt an diesem Nachmittag keine Rolle, denn Baltimore gewinnt 5:3, unter dem schattigen Tribünendach schmeckt selbst ein Light-Bier, und schließlich gibt es immer noch Wichtigeres: Nach dem vierten Inning möchte Peter von seiner Taylor wissen, ob sie seine Frau werden will. Mehr als 7.000 sind über die Lautsprecheranlage bei diesem Heiratsantrag live dabei. Taylor sagt Ja. Die Welt ist wieder in Ordnung.

THOMAS WINKLER, Jahrgang 1965, lebt als freier Autor im brandenburgischen Lehnitz