Eine Wahlreform, die nur Ärger auslöst

GROSSBRITANNIEN Eine völlig verwässerte Wahlrechtsreform entzweit die britische Regierungskoalition. Selbst die Parteichefs beschimpfen sich gegenseitig. Auch die Labour-Partei ist in der Frage gespalten

■ In Großbritannien werden keine Parteilisten gewählt, sondern ausschließlich Wahlkreisabgeordnete. Nach dem bisherigen Mehrheitswahlrecht gewinnt der Kandidat, der in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt. Beim Referendum am 5. Mai steht das System „Alternative Vote“ zur Wahl: Danach können WählerInnen die KandidatInnen nach Präferenz nummerieren. Erhält niemand bei der Auszählung der Erstpräferenzen die absolute Mehrheit, scheidet der Kandidat mit den wenigsten Erstpräferenzen aus, seine Zweitpräferenzen werden auf die anderen umgelegt. Dies wiederholt sich so lange, bis einer auf über 50 Prozent kommt.

AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK

Die Flitterwochen waren erstaunlich kurz. Sprachen die britischen Tories und die Liberalen Demokraten noch euphorisch von einer neuen politischen Ära, als sie nach den Wahlen vor einem Jahr eine Koalitionsregierung eingingen, so fallen sie inzwischen bei jeder Gelegenheit übereinander her. Energieminister Chris Huhne beschimpfte den Tory-Schatzkanzler George Osborne als Lügner, die Tory-Parteivorsitzende Sayeeda Warsi verglich er gar mit dem Nazi-Propagandachef Joseph Goebbels. Nun drohte er damit, Tory-Abgeordnete vor Gericht zu bringen, weil sie Lügen über die Wahlreform verbreitet hätten.

Der Streit über dieses Thema war im Koalitionsvertrag vorprogrammiert. Für Nick Clegg, den Chef der Liberalen Demokraten, hat die Wahlreform höchste Priorität. Das Referendum darüber, das am 5. Mai stattfindet, war die Bedingung für den Pakt mit den Tories. Die hatten die von den Liberalen angestrebte proportionale Repräsentation abgeschwächt und dann erklärt, dass sie doch das Mehrheitswahlrecht beibehalten wollen.

Für die Liberalen steht viel auf dem Spiel. Sie haben an Unterstützung verloren, weil sie bei zahlreichen Wahlversprechen auf Druck der Tories einen Rückzieher machen mussten. Am schwersten wog die Verdreifachung der Studiengebühren, die Massendemonstrationen und Protestaktionen auslösten. In ihrem Wahlprogramm hatten die Liberalen die Erhöhung der Gebühren noch strikt abgelehnt. So können sie sich eine Niederlage bei der Wahlreform eigentlich nicht leisten. Umfragen deuten jedoch auf einen Sieg der Reformgegner hin.

Denen warf Clegg am Wochenende vor, sie führten eine Kampagne, die auf „Lügen, Desinformation und Unehrlichkeit“ basiere. Zu diesem Lager zähle auch der konservative Regierungschef David Cameron, sagte Clegg. Er sei „Teil einer rechten Clique, die alles beim Alten belassen“ wollen. Cleggs Parteikollege, Wirtschaftsminister Vince Cable, ging noch weiter. Er appellierte an die Labour-Wähler, für die Reform zu stimmen, um die Tory-Dominanz zu brechen. Eine antikonservative Mehrheit sei möglich, sagte Cable.

Zu viele in der Labour Party setzen bei diesem Referendum die falschen Prioritäten

Peter Mendelson, Ex-Berater von Tony Blair

Bei der Parlamentswahl im Mai vergangenen Jahres lagen die Liberalen noch bei 23 Prozent, jetzt dümpeln sie bei 9 Prozent. Bei den Kommunalwahlen in England sowie den Wahlen für die Regionalparlamente in Schottland und Wales, die am selben Tag wie das Referendum stattfinden, werden die Liberalen den Unmut der Wähler zu spüren bekommen. Ein Ausstieg aus der Koalition würde für sie zu einem Debakel führen. Aber auch die Tories sind an die Koalition gebunden, denn sie liegen bei Umfragen deutlich hinter Labour und können sich vorgezogene Neuwahlen ebenfalls nicht erlauben. Mark Pritchard vom einflussreichen Tory-Hinterbänklerausschuss sagte denn auch: „Clegg und Huhne sollen aufhören zu jammern. Sie hatten es noch nie so gut: Beide leiten wichtige Ministerien.“

Die Labour Party ist bei der Frage der Wahlreform gespalten. Manche aus der Parteispitze treten auf Veranstaltungen gemeinsam mit Tory-Vertretern gegen die Reform auf, andere kooperieren mit den Liberalen für ein Ja. Peter Mandelson, früher enger Berater des Labour-Premiers Tony Blair, rief die Labour-Anhänger auf, für die Wahlreform zu stimmen, auch wenn sie eigentlich dagegen seien. „Zu viele in der Labour Party setzen bei diesem Referendum die falschen Prioritäten“, sagte er. „Sie wollen Nick Clegg in den Hintern treten und sehen nicht die langfristigen Vorteile einer Cameron-Niederlage.“