Auch Beethoven sieht Rot

Das Festival „France en Scène“ nimmt am letzten Wochenende noch mal Fahrt auf: Maguy Marin, Sasha Waltz und William Forsythe lassen das Ballett aus Lyon tanzen

Rot ist die Farbe grimmiger Entschlossenheit. Also schickt die französische Choreografin Maguy Marin ganz angriffslustig vier junge Frauen in kurzen roten Röcken und Hemden in ein Streichquartett von Ludwig van Beethoven. Und die vier lächeln die Welt nicht an, sie erwarten von niemandem etwas. Jeder Strich, mit dem die Streicher ihren Bogen über die Saiten führen, zeigt ihnen die Notwendigkeit, zu tun, was sie tun müssen.

Sie exekutieren ihre Bewegungen, ohne sie zu glätten. Ihre Arme heben sich in Abwehr – aber dann ist es doch sehr lässig, wie sie in die Luft vor sich schlagen, lästige Gegner verscheuchen. Wenn sie springen und laufen und dabei auch sehr schnell werden, behalten sie doch stets etwas für sich zurück: Ihre Schritte könnten größer sein, ihre Figuren prächtiger. Das aber eben macht die Wahrheit des Tanzes der vier Frauen aus: Sie leisten der Aufforderung der Kunst zur expressiven Verausgabung nicht Folge. Und sind dabei die Stärkeren.

Selten sah man vier Tänzerinnen eines Ballettensembles so unwirsch und so überzeugend – endlich einmal tanzen junge Mädchen keine reifen Diven, sondern – junge Mädchen. Alles, was Ballett, Performance und Tanztheater trennte, ist in dieser „Grosse Fugue“ von Maguy Marin aufgehoben; aber das ist schließlich auch der Ruf, den sich die Choreografin schon erworben hat. Die vier Tänzerinnen sind mit dem Ballett der Oper von Lyon ins Radialsystem gekommen, im Rahmen des Festivals „France en Scène“ und auf Einladung von Sasha Waltz. Und auch die Berliner Choreografin hat für das neoklassisch ausgebildete Ensemble aus Lyon ein halbstündiges Stück entwickelt – ihre erste Arbeit für eine andere Compagnie als die eigene.

Mit der „Fantasie“ nach einem vierhändigen Klavierstück von Franz Schubert (op. 103) bearbeitete Sasha Waltz zum zweiten Mal ein Werk des Komponisten. Anders als in ihrer Berliner Arbeit davor konzentriert sie sie sich hier aber noch mehr auf das Vermögen der Tänzer. Die Truppe aus Lyon ist sehr jung und könnte ihrer äußeren Erscheinung nach glatt als Hiphop-Gang aus der Banlieue durchgehen.

Direkt die erste Szene, in Zeitlupe und ohne Musik ausgeführt, setzt einen theatralischen Akzent: Ein Mann holt zum Schlag aus gegen einen anderen, verlangsamt dabei seine Bewegung und löst andere, sehr verwirrende Assoziationen aus. Diese Szene zieht an unserer Aufmerksamkeit, als ob eine Angel eingeholt würde – und alles, was dann folgt, ist ein Lösen vom Haken und ein befreites Davonjagen. Selten hat Sasha Waltz dem Leichten und Lyrischen so gänzlich das Spiel überlassen. Es scheint fast, als wäre die Arbeit in Lyon für sie auch eine Lizenz dafür gewesen, von einer Bedeutungsstiftung abzulassen, die ihre längeren Stücke sich immer vornehmen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Ballet de L’Opéra de Lyon: heute, 20 Uhr. Eine besondere Begegnung verspricht auch der Abend mit der eigenwilligen Choreografin Mathilde Monnier und dem Popstar Philippe Katerine: Sonntag, 21 Uhr; beides im Radialsystem. Weitere Gastspiele: HAU, Sophiensæle und Schaubühne