Dämon und Hammer

Morgen startet die Philharmonie mit einem Riesenprojekt: dem Mahler-Zyklus. Zehn Abende brauchen die Dirigenten Barenboim und Boulez für das sinfonische Werk des sinistren Wieners

VON STEFAN OSTERHAUS

Er war ein Mann des ersten Eindrucks, keine Frage: „Und da stand er nun in Person in der Theaterkanzlei: Bleich, mager, klein von Gestalt, bedeutende Augen hinter Brillengläsern, Furchen des Leidens und des Humors im Antlitz, das den erstaunlichsten Wechsel des Ausdrucks zeigte, eine geradeso interessante, dämonische, einschüchternde Inkarnation des Kapellmeisters Kreisler, wie sie sich der jugendliche Leser E. T. A. Hofmannscher Phantasien nur vorstellen konnte.“

Wie imposant dieser Gustav Mahler auf den jungen Dirigenten Bruno Walter gewirkt haben muss, lässt sich anhand dieser Zeilen erahnen. Als sinistre Figur allein blieb Mahler aber trotzdem nicht in der Erinnerung seines späteren Freundes Walter. Zeitlebens war er ein Referenzpunkt für die Arbeit des Orchesterleiters, gleich zweimal schrieb Walter ein Porträt über sein Vorbild. Als das Büchlein 1936 in Österreich erschien, war der zum Katholizismus konvertierte Jude Mahler ein Vierteljahrhundert tot, seine Musik von deutschen Bühnen verschwunden und Walter längst im Exil. Der Niederländer Willem Mengelberg, ein Mahler-Interpret der ersten Stunde, formte am Amsterdamer Concertgebouw zwar ein Mahler-Orchester par excellence, doch entschied er sich später für die bedingungslose Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. Der Komponist Mahler, der zu Lebzeiten umstritten war und dessen Ruhm im Wien der Jahrhundertwende sich vor allem aus seiner Tätigkeit als herausragender Dirigent und Opernreformator ergab, geriet in Vergessenheit.

Bis in die Sechziger hinein sollten Mahlers Nachlassverwalter dann vornehmlich in den USA zu finden sein. Es ist noch nicht so lange her, dass neue Interpretationen auch in Europa wieder stattfinden – womöglich finden sie deshalb noch jenen ungeheuren Widerhall, der den Kollegen Brahms und Bruckner niemals zuteil wurde. Jüngst veröffentlichte David Zinman unter starkem Jubel mit seinem Zürcher Tonhalle-Orchester den ersten Teil eines Sinfonienzyklus. Und wenn morgen die Berliner Staatskapelle unter Leitung von Daniel Barenboim und dem Mahler-erprobten Franzosen Pierre Boulez den Zyklus der zehn Sinfonien mit dem „Titanen“ eröffnet, dann ist es nicht nur der x-te Versuch einer Annäherung an Mahler, sondern auch die Wiederkehr der immergleichen Frage: Was hat Mahler als Wegbereiter der Moderne dem Hörer ein Jahrhundert später noch mitzuteilen?

Sie darf allerdings getrost vernachlässigt werden. Aus Mahler und seinen riesenhaften Werken nicht schlau zu werden, ist weder Makel noch Versäumnis. Selbst jene, die ihm sehr nahe standen, hatten mitunter Mühe. Zum Beispiel Otto Klemperer. Er war ebenfalls ein Protégé Mahlers, der es am Pult zu Weltgeltung brachte, was ihn jedoch nicht davon abhielt, Mahlers Werk und Wirken mit dem Blick des kritischen Orchesterleiters zu betrachten: „Ich bin kein dummer, begeisterter Junge, ich mag nicht alles, was er geschrieben hat.“ Vor allem zur sechsten Sinfonie fiel ihm wenig ein: „Ich muss ehrlich sagen, dass ich sie nicht verstehe.“ Also ließ er die Finger von dem für ihn so unergründlichen Stück.

Der Sinfoniker Mahler scheint bis heute eine der letzten Herausforderungen für ambitionierte Kapellmeister zu sein. Insofern wird es interessant werden, was Barenboim im Wechselspiel mit dem französischen Kollegen Mahler abzugewinnen vermag. Denn Boulez und seine eher analytische Deutung ist bereits auf vielen Platten mit diversen Spitzenorchestern dokumentiert. Barenboim allerdings brauchte etliche Jahre, um sich an Mahler heranzutasten. Zu hartnäckig hat ihn wohl das Klischee verfolgt, wonach Mahler lediglich ein Eklektiker gewesen war, der den Schrottplatz der Musikgeschichte vor allem an den Rändern plünderte und der nichts weiter als Monumentalwerke mit folkloristischem Einschlag produzierte. Barenboim erklärte, dass die bloße Reduzierung Mahlers auf orchestral aufgemotzte Klezmermusik von Seiten vieler Interpreten ihm immer zu wenig gewesen sei. Der Wagnerianer Christian Thielemann hat eine noch einfachere Anti-Mahler-Formel gefunden: Ihm ist Mahler schlicht zu schwermütig.

Der Komponist selbst hat einiges für die beinahe mystische Aufladung seines Schaffens getan. So strich er in der von Klemperer verschmähten sechsten Sinfonie, die er „Die Tragische“ genannt haben soll, den dritten Hammerschlag am Ende des letzte Satzes. Er stand für einen Hieb, der den Helden fällt. Mahler tat es aus Angst vor einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Als die Sinfonie unter Mahlers Leitung in Essen uraufgeführt wurde, dirigierte er sie in schlechter Verfassung und entgegen seiner gewohnten Perfektion bestenfalls durchschnittlich. Mahlers Frau Alma wollte im Hammerschlagfinale die Vorausahnung dreier Schicksalsschläge sehen, die den Komponisten am Ende dahinrafften: Seine Demission als Direktor der Wiener Hofoper, der Tod seiner Tochter und eine Herzerkrankung, der er selbst letztlich erlag.

Es gehört zu den Legenden des Musikbetriebs, dass allein Leonard Bernstein das Revival Mahlers, in dem er einen jüdischen Seelenverwandten zu erkennen glaubte, vorangetrieben habe. Bernstein, der den ersten Zyklus in Stereoeinspielungen vorlegte, führte allerdings finster entschlossen das fort, was sein Mentor Dimitri Mitropoulos angestoßen hatte. Mitropoulos war neben Walter der wichtigste Mahler-Wegbereiter in den USA und legte eine Einspielung der „Sechsten“ vor, die in ihrer beängstigenden Intensität selbst von Bernstein nicht übertroffen wurde. Für Mitropoulos dürfte allerdings auch der letzte Eindruck Mahlers noch dämonischer Natur gewesen sein: Während einer Probe der dritten Sinfonie stürzte der Dirigent in den Orchestergraben. Auf dem Weg ins Krankenhaus erlag Mitropoulos den Folgen seines – dritten – Herzinfarkts.

Der „Mahler-Zyklus“ wird im Rahmen der Festtage von der Staatskapelle Berlin vom 1. bis 12. April in der Philharmonie aufgeführt: Daniel Barenboim und Pierre Boulez dirigieren im Wechsel alle neun vollendeten Sinfonien Gustav Mahlers, sein „Lied von der Erde“ und die Orchesterlieder