Angewandter Anarchismus

SZENISCHE LESUNG Nur auf den ersten Blick eine wundersame Wandlung? Burghart Klaußner und David Allers lesen bis Sonntag im Polittbüro Fernando Pessoas sarkastische Kurzgeschichte „Ein anarchistischer Bankier“

Mit beißendem Spott führt Pessoa den selbstgerechten Sophismus der Rede von der individuellen Freiheit vor

VON ROBERT MATTHIES

Wie wird aus einem mittellosen, klassenbewussten Anarchisten ein reicher Bankier? Indem er zunächst einmal all seine früheren Überzeugungen über Bord wirft? Indem er sie nach reiflicher Überlegung als idealistische Naivität entlarvt, als träumerische Verkennung der Realitäten, an deren Stelle im Verlauf des Lebens allmählich die vernünftige Einsicht in Wirklichkeiten und Möglichkeiten tritt? Indem er schlicht korrumpiert wird und die Seiten wechselt? Nichts von alledem! Nicht der Verrat der alten Ziele, sondern ihre konsequente Weiterentwicklung, nicht die Abkehr von, sondern die strikte Anwendung der Theorie in der Praxis sind der wahre Grund für die auf den ersten Blick wundersame Verwandlung: Der echte Anarchist wird nachgerade gezwungen, Bankier zu werden und erst der erfolgreiche Bankier kann wirklich wissenschaftlichen Anarchismus betreiben. Ist er doch als Einziger in der Lage, das Geld als wirkmächtigste gesellschaftliche Fiktion überhaupt zwar nicht abzuschaffen, aber zumindest zur Wirkungslosigkeit zu verdammen, zumindest für ihn selbst – und so die Freiheit zu erringen.

„In mir – jawohl, in mir, dem Bankier, dem großen Händler und Schieber, wenn sie es so hören wollen – in mir vereinigen sich beide, Theorie und Praxis des Anarchismus, aufs genauste.“ Mit beißendem Spott und elegantem Scharfsinn hat der portugiesische Schriftsteller, Lyriker und Kritiker Fernando Pessoa – selbst alles andere als ein linker Intellektueller mit Interesse an gesellschaftlicher Emanzipation – in seiner Kurzgeschichte „Ein anarchistischer Bankier“ vor 90 Jahren den selbstgerechten Sophismus der Rede von der individuellen Freiheit vorgeführt – und damit nicht zuletzt auch die grundlegenden Texte der bürgerlichen politischen Aufklärung von Descartes über Malthus bis Rousseau und zugleich die mit ihr in Komplizenschaft stehende Psychologie der Revolution spielerisch als geschickte Taschenspielertricks entlarvt.

Dreimal bringt die Vers- und Kaderschmiede gemeinsam mit dem DGB das sarkastische Tischgespräch zwischen dem süffisanten Bankier und seinem jungen Freund – im Grunde natürlich ein Monolog – von heute Abend bis Samstag im Polittbüro als szenische Lesung auf die Bühne. Dabei darf man sich nicht nur auf kunstfertige logische Volten und überraschende Antworten auf die großen geschichtsphilosophischen Fragen der Moderne freuen, sondern auch auf zwei hochkarätige Darsteller: Den anarchistischen Bankier mimt Burghart Klaußner, der unter anderem letztes Jahr für seine Rolle als Pastor in Michael Hanekes „Das weiße Band“ den Deutschen Filmpreis als bester Hauptdarsteller und dieses Jahr den Deutschen Hörbuchpreis als bester Interpret erhalten hat. Den mehr oder weniger skeptischen Zuhörer gibt David Allers.

■ Do, 28. 4. bis So, 1. 5., 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45