Eine Frage von Schuld und Sühne

Warum Steinmeier als Außenminister nicht zurücktreten muss – und die rot-grüne Regierung im Fall Kurnaz trotzdem Fehler gemacht hat

Entschuldigen? „Nein. Bedauern ist wohl der richtige Ausdruck“, sagt Steinmeier

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Nein, sagte Siegfried Kauder (CDU), der Vorsitzende des BND-Untersuchungsausschusses, gestern, weitere Befragungen im Fall Murat Kurnaz seien nicht mehr nötig. Der Ausschuss habe zwar noch eine Reihe von Vernehmungen angesetzt, er persönlich sehe dazu allerdings keine Notwendigkeit. Mit dem Auftritt von Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag sei der Untersuchungszweck erfüllt. Überraschungen erwarte er in der Angelegenheit nicht mehr.

Kauder, der penible Jurist, dürfte mit seiner Prognose wohl recht behalten – auch wenn die Opposition noch bis in den Sommer hinein akribisch den Details des Falles Kurnaz nachgehen wird. Max Stadler (FDP), Wolfgang Neskovic (Linke) und Hans-Christian Ströbele (Grüne) tun das im Übrigen völlig zu Recht. Noch ist zum Bespiel nicht geklärt, unter welchen Umständen der Bremer Verfassungsschutz im Jahre 2002 die Verdachtsmomente gegen den jungen Bremer Murat Kurnaz zusammentrug; jene Verdachtsmomente, die ausschlaggebend dafür waren, dass Kurnaz als „Gefährder“ eingestuft und gegen ihn eine Einreisesperre nach Deutschland verhängt wurde; jene Verdachtsmomente auch, die, obwohl zum Teil längst widerlegt, Kurnaz von Vertretern der früheren rot-grünen Regierung bis heute unter die Nase gerieben werden.

Die Vertreter der Opposition sehen sich bei ihren Bemühungen jedoch einem Automatismus ausgesetzt, der ihre Arbeit überflüssig erscheinen lässt: Wittert die Öffentlichkeit einen politischen Skandal, verlangt sie Aufklärung – wird diese Aufklärung dann gewissenhaft betrieben, verliert die Öffentlichkeit das Interesse oder den Überblick. Wer, außer ein paar Kurnaz-Exegeten im Ausschuss und in den Medien, ist denn auch in der Lage, in dem Wust aus Akten, Protokollen, Daten und Vermerken den Überblick zu behalten?

Umso wichtiger ist es, den roten Faden der ganzen Geschichte nicht zu verlieren: Murat Kurnaz saß viereinhalb Jahre unschuldig im US-Lager in Guantánamo, wurde dort gedemütigt und gefoltert – und noch jeder Vertreter der deutschen Regierung, die für seinen Schutz zuständig war, vom Referatsleiter im Innenministerin bis hinauf zum Chef des Kanzleramtes, behauptet heute, keiner habe in dieser Zeit zwischen 2002 und 2006 auch nur einen einzigen Fehler gemacht.

Illustriert wurde dieser brutale Kontrast kurz vor dem Ende der fast sechsstündigen Befragung von Frank-Walter Steinmeier am späten Donnerstagabend. Steinmeier, als früherer Kanzleramtschef und heutiger Außenminister die Schlüsselfigur der Affäre, wurde von Wolfgang Neskovic beiläufig gefragt, ob er eigentlich mal daran gedacht habe, sich bei Murat Kurnaz für dessen Leiden in Guantánamo zu entschuldigen. „Entschuldigen kann man sich nur für ein Fehlverhalten“, antwortete Steinmeier. „Ein solches Fehlverhalten kann ich nicht sehen. Bedauern ist daher wohl der richtige Ausdruck.“

Dieses Bedauern hatte der Minister zuvor bereits geäußert, ebenfalls nur auf Nachfrage und genauso gespreizt formuliert. Der Liberale Max Stadler hatte von Steinmeier wissen wollen, ob dessen Formulierung vom „tragischen Schicksal“ Kurnaz’ der Ausdruck des Bedauerns sei, auf den so viele warten würden. Der Minister sprach daraufhin von einem „schwierigen Abwägungsvorgang“, von „damaligen Entscheidungsbedingungen“ und davon, dass niemand die Absicht gehabt habe, die Haft von Murat Kurnaz in Guantánamo zu verlängern. „In diesem Zusammenhang muss ich auch ein Wort des Bedauerns äußern, natürlich.“ Beamtenansage beendet.

Es ist genau diese Mischung aus fehlendem Selbstzweifel und verweigertem menschlichen Mitgefühl, die so charakteristisch ist für den Umgang der Steinmeiers, Schilys, Uhrlaus und Hannings mit Murat Kurnaz. Juristisch ist der rot-grünen Regierung kaum etwas vorzuwerfen, Steinmeier muss als Außenminister nicht zurücktreten, und ob Kurnaz früher aus Guantánamo entlassen worden wäre, wenn die Verantwortlichen in Deutschland ihn nicht zum Türken gestempelt hätten, ist nicht bewiesen – das heißt aber noch lange nicht, dass sie sich politisch und moralisch korrekt verhalten haben.

Gewiss, die Entscheidung vom Herbst 2002, Kurnaz nicht nach Deutschland einreisen zu lassen, wenn er den freikommen sollte, ist mit Blick auf die damals politisch überhitzte Zeit nachvollziehbar – richtig muss sie aus heutiger Sicht deswegen nicht sein. Der Hauptvorwurf ist ohnehin ein anderer: Die Regierung hat ihre Entscheidung nie infrage gestellt. Die Wiedereinreise von Kurnaz zu verhindern ist bis zum Ende des Jahres 2005 zum Ziel an sich geworden. Die Unschuldsvermutung wurde ihm gegenüber völlig außer Kraft gesetzt. Kurnaz wurde zum Opfer einer geradezu perfekt funktionierenden, unerbittlichen, klinisch reinen staatlichen Verwaltungsmaschinerie.

Symptomatisch dafür war der Auftritt des Beamten Dr. Hans-Georg Maaßen vor dem Untersuchungsausschuss am 26. Februar. Maaßen, 2002 Referatsleiter im Bundesinnenministerium, hatte damals die Vorlage verfasst, in der begründet worden war, wie dem Guantánamo-Häftling Kurnaz die Wiedereinreise nach Deutschland verweigert werden könnte. Die Antwort war einfach: Der Bremer dürfe gar nicht wiedereinreisen, weil seine Aufenthaltsgenehmigung „erloschen“ sei – schließlich habe er sich mehr als sechs Monate „im Ausland“ aufgehalten und keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Maaßen gab vor dem Ausschuss ungerührt Einblick in die Rationalität einer deutschen Behörde. „Es handelt sich um ein Erlöschen kraft Gesetzes“, begründete er die Richtigkeit der damaligen Entscheidung. „Schon nach dem Wortlaut dieser Vorschrift kommt es allein auf die Abwesenheit von mehr als sechs Monaten an. Nicht entscheidend ist, ob der Auslandsaufenthalt freiwillig erfolgt.“ In dieser Logik lag dann auch die an die US-Amerikaner herangetragene Bitte, die Aufenthaltserlaubnis in Kurnaz’ Pass „physikalisch ungültig“ zu machen. „Dies entspricht der mir bekannten allgemeinen Verwaltungspraxis und grenzpolizeilichen Praxis in allen Fällen, in denen ein Aufenthaltstitel erloschen oder entzogen worden ist“, erläuterte Maaßen. „Die physikalische Ungültigmachung stellt keinen eigenständigen rechtsgestaltenden Verwaltungsakt dar.“

Deutlichere Worte über Murat Kurnaz sind selten gefallen.