Die Mannschaft macht den Sieg

Trotz gelichtetem Kader setzt sich der THW Kiel gegen Portland San Antonio durch. Jetzt haben die „Zebras“ beste Chancen, in der Handball-Champions League erstmals den Titel zu holen

AUS KIEL CHRISTINA STEFANESCU

Ob er schon etwas gefangen hat? Noka Serdarusic ist nicht erreichbar, nicht für die Presse. Er möchte nichts hören außer dem Rauschen des Meeres – kein Handyklingeln, keine klickenden Fotoapparate, kein Expertenlob via TV oder Radio. Er möchte heute nichts sehen außer der Ostsee, seiner Angel, Fischen, dem Boot auf dem er einige Tage verbringt und dem Freund, der ihn auf der Reise begleitet. Dabei wäre Noka Serdarusic dieser Tage ein gefragter Gesprächspartner. Aber: Er will nicht. Er möchte abschalten.

Seit Freitag ist klar: Der THW Kiel, Serdarusics Mannschaft, steht zum zweiten Mal nach 2000 im Finale der Champions League – und hat gute Chancen, sich zum ersten Mal den Titel zu holen. Am Freitag nämlich besiegte die derzeit wohl drittbeste Mannschaft der Welt die nach Meinung vieler zweitbeste Mannschaft der Welt, den Tabellenführer der spanischen Liga, Portland San Antonio, im Halbfinal-Rückspiel in der Kieler Ostseehalle mit 37:34 (20:19). Ein Drei-Tore-Sieg für die Kieler – nach der 28:30-Niederlage aus dem Hinspiel eine Punktlandung. Und obwohl der THW seit 208 Tagen in eigener Halle nicht mehr verloren hat, war ein Sieg keine Selbstverständlichkeit: Portland San Antonio hatte im Viertelfinale die wahrscheinlich beste Mannschaft der Welt geschlagen, den amtierenden Champions-League-Sieger und derzeit Zweiten der spanischen Liga, Ciudad Real.

Der THW Kiel, zwölfmaliger Deutscher Meister, ist auch in dieser Saison Meisterschaftsfavorit, einer der Favoriten auch auf den Gewinn des Deutschen Pokals und seit dem Sieg gegen San Antonio nun auch Favorit auf den Titel in der Champions League. Und das, obwohl die „Zebras“ derzeit sprichwörtlich „auf dem Zahnfleisch“ gehen. Serdarusics Kader am Freitag: 11 Spieler, davon zwei Torleute. Dazu zwei Spieler, Kim Andersson und Christian Zeitz, denen gegen Portland San Antonio beinahe nichts gelang, die auf dem Platz nur als Anspielstationen dienten. Und Neuzugang Andrej Tschepkin, sechsmaliger Champions-League-Sieger mit dem FC Barcelona, der nach zwei Jahren Pause gerade einmal drei Trainingseinheiten absolviert hatte. Er soll in der Abwehr Marcus Ahlm ersetzen, der sich im Hinspiel so schwer verletzt hatte, dass er bis zum Ende der Saison ausfällt. Sein neuer Mannschaftskollege Dominik Klein nennt Tschepkin einen „russischen Kuschelbär“, in der spanischen Liga war Tschepkin „El Gigante“. Die ihm zugedachte Rolle in der Abwehr konnte der Gigant am Freitag noch nicht ausfüllen.

Doch gerade in einer solchen Situation, in der die Bank nur spärlich besetzt ist und zwei Leistungsträger nicht Normalform erreichen, zeigt sich die Klasse des THW Kiel: Wenn Zeitz und Kim Andersson quasi ausfallen, machen es eben Nikola Karabatic (10 Tore), Kapitän Stefan Lövgren (8 Tore), Dominik Klein und Vid Kavticnik (jeweils 7 Tore), das Spiel. Und auch wenn die Abwehr ohne Marcus Ahlm deutlich geschwächt war, vermochte ein aufmerksamer und schneller Dominik Klein die Wege des derzeit wohl besten Handballers der Welt, Ivano Balic, ein ums andere Mal zu stören.

Das Halbfinal-Rückspiel gegen San Antonio war kein besonders schönes Spiel. Es war vielmehr ein Kampf. Für viele Journalisten und Experten gar das vorgezogene Finale, der Kampf um die europäische Krone. Ein Kampf, den 10.250 Kieler Fans mit Anfeuerungsrufen begleiteten, die zuvor selten so laut durch die Ostseehalle geschallt waren wie am Freitag. Es war die Mannschaftsleistung, die am Ende den Ausschlag gab – und selbst dem sonst meist ernsten Noka Serdarusic nach dem Spiel ein Lächeln entlockte.

„Es ist egal, ob ich kleine oder groß Fische fange“, hatte Serdarusic nach dem Spiel über seinen anstehenden Urlaub gesagt, „ich will jetzt nur die Ruhe auf dem Meer genießen“ – vielleicht die Ruhe vor dem ganz großen Fang.