Kulturelles Gedächtnis als Markt

DOKUMENTATION Kleinere Filmprojekte scheitern heute oft an unbezahlbaren Zitatrechten. Ein Symposium und eine Filmreihe im Zeughauskino will das Problem öffentlich machen

Gediegene Dokumentarfilme werden zu überladenen Wimmelbildern

VON SILVIA HALLENSLEBEN

In der Augustausgabe des filmpolitischen Branchenblatts black box war ein ausführliches Interview von Herausgeberin Ellen Wietstock mit dem unabhängigen deutschen Filmemacher und Produzenten Dietmar Post zu lesen. Darin beklagt dieser unter anderem, dass dokumentarische Filmprojekte mittlerweile oft an den für kleinere Produktionsfirmen unbezahlbaren Zitatrechten für benötigtes (oder zumindest erwünschtes) Archivmaterial scheitern. Besonders stark beträfe das in Deutschland die Archive des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, wo sich nach Aufkündigung des sogenannten Programmaustauschs auch die Sender untereinander Lizenzgebühren zahlen müssen. So kann es kommen, dass die Lizenzabteilung eines Senders einem von der eigenen Redaktion koproduzierten Filmprojekt Archivmaterial in Rechnung stellt. Und auch die von der Kritik oft angeprangerte Praxis des Reenactments bei Geschichtsdokumentationen ist in vielen Fällen ursprünglich keine ästhetische sondern eine Kostenfrage, weil ein Drehteam und Statisten billiger sind als die Senderechte für historisches Bildmaterial.

Die Sache ist keineswegs ein berufsspezifisches Randthema sondern trifft ins Zentrum unseres kulturellen Gedächtnisses, bei dem die audiovisuelle Überlieferung eine immer größere Rolle spielt. Und damit auch die Frage nach der Verfügbarkeit der historischen Bilder und Töne für einen öffentlichen Diskurs, der ihre Deutung und Bedeutung debattiert und befragt. Deshalb ist es gut, wenn sich jetzt auch das Doku.Arts-Festival im Rahmen eines Symposiums mit dem Sujet beschäftigt und ihm hoffentlich Öffentlichkeit jenseits des informierten Fachpublikums verschafft. Da macht es auch nichts, wenn der gewählte Titel „Recycled Cinema“ dem derzeitigen Trend zum wertsteigernden Upcycling (und genau das ist die produktive Wiederverwertung von Filmmaterial ja eigentlich!) ein paar Schritte hinterher läuft.

Das Panel der von Andreas Lewin verantworteten Tagung ist mit Fachleuten wie (unter anderem) BBC-Justitiarin Elizabeth Gibson, Fair-Use-Spezialistin Julie Ahrens von der Stanford Law School und dem Frankfurter Rechtsprofessor Alexander Peukert international besetzt und Teil des schön ironisch „Second Hand Cinema“ benannten zweijährigen Rechercheprojekts, das die Praxis eines solchen Kinos im europäischen Vergleich erforscht. Dabei treten neben rechtliche auch ästhetische und politische Fragen – und neben das illustrierende Zitat die künstlerisch komplexen Praktiken von Collage, Verfremdung oder Mashup. Und die Archive selbst: Sollen und wollen sie institutionell abgeschlossene Tresore rarer Preziosen sein oder lebendige Stätten künstlerisch-forschender Praxis, wie es zuletzt das Arsenal mit seinem „Living Archive“-Projekt gezeigt hat?

„Second Hand Cinema“ ist auch der Titel eines vierwöchigen Programms mit 25 Filmen, die – ganz nach Doku.Arts-Tradition – recht frei im weiten Feld der Kunst grasen und unterschiedlichste Varianten des Found-Footage-Film beleuchten. Eröffnet wird sie mit der deutschen Premiere von Nancy Kates’ großer filmischer Auseinandersetzung mit Leben und Arbeit der 2004 verstorbenen Susan Sontag. Wie in solchen Porträts üblich, kommen neben Sonntag selbst Weggefährten, Bewunderer (und auch LiebhaberInnen) in großer Zahl zu Wort. Sechs Jahre hat Kates an „Regarding Susan Sontag“ gearbeitet, dementsprechend beeindruckend dicht gestrickt und aussagekräftig ist das zusammengetragene Material. An Budget hat es nicht gemangelt, im Gegenteil: Auch diese HBO-Produktion leidet an dem Horror Vacui, der viele gediegene amerikanische Dokumentarfilme zu überladenen Wimmelbildern macht – mit dem Zwang, jedes ursprünglich nicht bewegte Bild mit künstlichen Animationen und dramatisierenden Soundeffekten aufzumotzen. Bei Erläuterung der Frage, ob solche Instrumentalisierung von Originalmaterial mehr als nur ein ästhetisches Ärgernis ist, kann vielleicht Thomas Elsaessers Eröffnungsvortrag zur „Ethik der Aneignung“ helfen.

■ Second Hand Cinema: Zeughauskino, 10. 9.–12. 10., Regarding Susan Sontag am 10. 9., 20 Uhr und 14. 9., 21:00 ■ Fachtagung Recycled Cinema: 11., 12. 9., 10–18 Uhr, Zeughauskino, Info: www.doku-arts.de