Selige Zeiten

Religiosität als Achterbahnfahrt: Stefan Bachmann hievt Paul Claudels Trilogie „Die Gottlosen“ am Berliner Maxim Gorki Theater auf die Bühne

Wie ein Statement von Houellebecq inszeniert Bachmann den Werteverfall nach der Revolution

VON ESTHER SLEVOGT

Die Bühne ist dunkel. Eine weiße schmale Frauengestalt hantiert mit einem riesigen Kruzifix, das sie dann in den Bühnenboden rammt wie der Bergsteiger das Gipfelkreuz. Die Bühne ist wüst und leer, eingerahmt nur von grauen Schieferwänden, auf denen jeder, der hier später erscheint, erst einmal mit Kreide seine Silhouette markieren muss. Da wirkt die Aufrichtung des Kreuzes wie eine gewaltige Setzung, zumal der Titel dieses Theatermarathons werbewirksam „Die Gottlosen“ heißt. So nämlich hat der Schweizer Regisseur Stefan Bachmann nachträglich die zwischen 1908 und 1916 entstandene Coûfontaine-Trilogie des Dramatikers Paul Claudel überschrieben und nun in einem mutigen Kraftakt auf die Bühne des kleinen Berliner Maxim Gorki Theaters gebracht.

Die Trilogie verfolgt eine französische Adelsfamilie durch drei Generationen: von der Zeit Napoleons bis zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870. Erzählt wird aber auch die Geschichte der Emanzipation vom Glauben als Geschichte eines Verfalls. Denn das errichtete Holzkreuz wird nicht lange stehen. Eben hat es die schmerzensreiche Aristokratentochter Sygne unter barocken Oratoriumsklängen wieder aufgerichtet, da kommt auch schon der grobschlächtige Emporkömmling und Revolutionsgewinnler Turelure (Peter Kurth) und reißt es wieder aus. Irgendwann wird es dann für seinen Metallwert an einen Juden verhökert, der inzwischen als Phänomen jenes Kapitalismus aufgetaucht ist, dem der Terror der Französischen Revolution mit der brutalen Ausrottung aller Ordnungen und Werte den Weg gebahnt hat. So weit, so holzschnittartig.

Und typisch für diesen fast sechsstündigen Abend, der den Zuschauer auf eine Achterbahnfahrt schickt: Aus den Höhen der Dichtung rast man in Sekundenschnelle in die Abgründe einfältiger Symbolik, aus den Tiefen platter Arrangements, in denen Stefan Bachmann Claudels symbolistisches Thesenstück eingerichtet hat, wieder empor zu Momenten, wo ein stimmiges Bild das wabernde Irgendwie dieses Abends vergessen macht. Da liefert sich in Teil eins („Die Geisel“) Sygne (Anja Schneider) mit ihrem Cousin Georges (Sebastian Blomberg) eben noch ein hölzernes Wortgefecht über die Konsequenzen der Revolution für Recht und Werte, da taucht plötzlich Peter Kurth als Turelure, bepackt mit lauter Luxuseinkaufstüten, auf.

Jawohl, da ist er, der vitale Kapitalist! Und allein Kurths Körpersprache sagt mehr über diese Konsequenzen als das ganze Thesentheater davor. Stolz zerrt er Stück um Stück die Shoppingbeute aus den teuren Verpackungen und kleidet damit die willenlose Sygne ein, die er inzwischen geheiratet hat. In der Yves-Saint-Laurent-Tüte schließlich brüllt das gemeinsame Baby.

In Teil zwei („Das harte Brot“) treffen wir dieses Kind erwachsen wieder: als langhaarigen und labilen Rebellen (Florian Stetter), der die Ermordung des Vaters zwecks Übernahme seines Vermögens plant und den Bachmann auch als houellebecqhaftes Statement zur 68er-Revolte des 20. Jahrhunderts inszeniert, die einst die konservative Nachkriegsgesellschaft so weich revolutionierte, dass der Kapitalismus sich ungehindert von alten Bindungen ausbreiten konnte. Marc Bolan glamrockt das Lied „Children of the Revolution“. Ein Kopulationsschlachtengemälde vertieft noch den Eindruck postrevolutionären Verfalls.

Es gibt gute Gründe, einen Dramatiker wie Paul Claudel (1868–1955) wieder auszugraben. In Zeiten, in denen der Westen angesichts des wuchernden Kapitalismus einerseits und seiner höhnischen Verachtung durch den Tugendterror des fundamentalistischen Islams andererseits hektisch nach seinen Werten fahndet. Denn dieser Claudel war nicht nur ein sprachgewaltiger Stückeschreiber, sondern auch bekennender Katholik, der seine Religiosität als radikale Kritik der Moderne verstand.

Claudel ahnt schon die Dialektik der Aufklärung, deren Verlustrechnung er lange vor der Frankfurter Schule aufzumachen beginnt. Er ist dann aber zu sehr Symbolist und der schwülstigen Innerlichkeit des Fin de Siècle verfallen, um die Sache konsequent zu Ende zu denken. Insofern ist Bachmann für sein Gespür zu loben. Doch auch Bachmann denkt Claudel nicht zu Ende. Er denkt ihn noch nicht einmal richtig durch, sondern verquirlt seine Motive zu einem halbgaren Stilmix.

Erst in Teil drei schwingt sich der Abend in poetische Höhen auf. Vom kalten Scheinwerferlicht an die grauen Schieferwände geklatscht, debattiert Pensée, die blinde Enkeltochter Sygnes, mit ihrem Geliebten über die Liebe als letzten Fluchtpunkt der Utopie. Erst hier erreicht der Abend mit letzter Kraft etwas Größe, wohl auch, weil er im Grunde vor Claudels Sprachmacht kapituliert hat, die sich nun ganz ungehindert ihren Weg bahnen kann.