Von der Heeresschlachterei zur Zivilfabrik

KULTURPRODUKTION An diesem Wochenende feiern Wedding und Moabit ein gemeinsames Kulturfestival. Daran teil nimmt auch die Kulturfabrik in der Lehrter Straße. Portrait eines bürgerbewegten Kulturprojekts in Moabit

Am Wochenende feiern Wedding und Moabit ein gemeinsames Kulturfestival an über 150 Orten. In Zusammenarbeit mit der Musikschule Fanny Hensel und der Popschule Berlin lädt das Slaughterhouse in der Kulturfabrik im Rahmen des Festivals von Freitag bis Sonntag zu einem Musikprogramm mit DJs und Live-Bands. Der Eintritt ist an allen Tagen frei.

■  Kulturfabrik: Lehrter Str. 35, 12.–14. 9., Programm: www.kulturfabrik-moabit.de ■  Kulturfestival Wedding-Moabit: 11.–14. 9., Programm: www.festival.knwm.de

VON HELMUT HÖGE

Die Lehrter Straße war wegen ihrer Nähe zur Mauer lange eine Art „Dead End“, gleichzeitig wohnten dort jedoch viele sogenannte „bürgerbewegte Menschen“. Im „Aktionsmonat“ Mai 1991 erbaten sie sich von der Verwaltung des seit 17 Jahren leer stehenden Hauses Nr.35 die Schlüssel, die sie von der AWO-Stiftung „Sozialpädagogisches Institut“ (SPI) auch bekamen – und dann nie wieder zurückgaben. Inzwischen haben sie bis 2036 nicht nur einen „Selbstverwaltungsvertrag“ für die ehemalige Heeresschlachterei, in der zuletzt Kekse produziert wurden, sondern auch fünf Millionen Euro aus Lottomitteln und von der SPI für die Renovierung ihrer Kulturfabrik.

Das alles regelt ein Dachverband mit 80 ehrenamtlich Aktiven, der das Café betreibt und daneben mehrere selbständig wirtschaftende Vereine – für das Kino im Haus und das Openairkino hinterm Haus, für das Fabriktheater mit zwei Theatersälen, für die Konzertveranstaltungen des „Slaughterhouse“, das alljährlich zur „Langen Nacht der Indieschönheiten“ einlädt, für die Nachbarschaftswerkstatt und die Unterwasserfoto-AG „Pool Position“, woraus inzwischen auch ein Galerieprojekt hervor gegangen ist, das dort regelmäßig Ausstellungen organisiert.

Die etwa einen Kilometer lange Lehrter Straße, die vis à vis vom Hauptbahnhof beginnt, wurde von Militär und Polizei geprägt. Gleich vorne befand sich das Moabiter Zellengefängnis, deren politische Häftlinge in den letzten Tagen des Krieges von der SS ermordet wurden. Einer der Widerstandskämpfer, Albrecht Haushofer, hatte einen Text in der Tasche, der hernach als „Moabiter Sonette“ bekannt wurde. Einige Zeilen daraus stehen an der Mauer des Gedenkparks, der vor einigen Jahren dort angelegt wurde, wo sich einst das Zellengefängnis befand. Das Frauengefängnis in der Lehrter Straße steht noch, wir sind zu RAF-Zeiten öfter dort hingepilgert. Bei schönem Wetter saßen die Gefangenen auf den Fensterbänken – die Beine durch die Gitter gesteckt und warfen sich an Schnüren Kassiber zu.

Heute werden dort männliche Schwerverbrecher inhaftiert und die Fenster sind doppelt vergittert. Die Kulturfabrik organisierte auch schon einige Konzerte für die Inhaftierten. In der Mitte der Lehrter Straße befindet sich die weiträumige Kaserne des einstigen Gardefeldartillerieregiments, die zuletzt von der Polizei genutzt wurde, heute von Architektur- und Medienfirmen und der Usbekischen Botschaft. Es gab dazu einen Exerzierplatz und drumherum jede Menge Offizierswohnungen sowie das Heeresbekleidungsamt. Ein Stück weiter ist das alte Poststadion, das langsam aufgehübscht und vom Regionalligisten Berliner Athletik-Klub 07 neu bespielt wird.

Das letzte Drittel der Lehrter Straße bis zur Perleberger Straße wird von vielen Menschen türkischer Herkunft bewohnt, die bis zur Wende in Moabiter Industriebetrieben gearbeitet hatten und heute „sehr konservativ“ sind, wie die Kulturfabriksleute sagen, die bereits vergeblich versuchten, mit der Moschee dort zu kooperieren. Derzeit bieten sie Hausarbeitshilfen für Schüler aus der Nachbarschaft an. Daneben hat auch das „Quartiersmanagement Moabit-Ost“ Sommerveranstaltungen für Jugendliche organisiert. Eine Ausstellung in der 2010 „revitalisierten“ Moabiter Arminiusmarkthalle über „Migrations-Geschichte“ legte nebenbei bemerkt den Schluss nahe, dass sich die Türken und die „Kartoffeln“ früher einmal ähnlicher waren: Es sind die Deutschen, die sich deintegriert haben – seit 1989 und dem „Ende der Arbeitsgesellschaft“. In der Lehrter Straße gibt es neuerdings auch ein Hostel – wegen der Nähe zum Lehrter Bahnhof, der abgerissen und 1995 als „Hauptbahnhof“ neu gebaut wurde.

Vom neuen Hostel profitiert auch die Kulturfabrik, aber nicht so sehr, dass es stört

Davon profitiert auch die Kulturfabrik ein bisschen, erfuhr ich dann noch – aber nicht so sehr, dass es stört. In der Fabrik herrscht eine besonders freundliche „Atmo“, die mich jedes mal, wenn ich dort ins Kino oder Café ging, wunderte.

Dieses kleine Berliner „Wunder“ fing schon mit Klara Franke an, deren Porträtfoto hinter der Theke hängt. Die „Aktivistin der 1. Stunde“ („Wenn du was erreichen willst, musst du den Politikern auf die Füße treten!“) wohnte in der Lehrter Straße, sie starb vor 18 Jahren – mit 84. Heute ist der große Kinderspielplatz neben der Kulturfabrik nach der „Kiezmutter“ benannt. Und der „Verbund für „Nachbarschaft und Selbsthilfe Moabit“ lobt in unregelmäßiger Folge den „Klara-Franke-Preis“ für Bürgerengagement und Zivilcourage im Bezirk aus. „Sie war eine der am nachhaltigsten wirkenden Personen bei der Gestaltung des Moabiter Kiezes und der Lehrter Straße. Durch die stagnierende Stadtteilentwicklung in den 80er Jahren und die Vernachlässigung der Sanierung der Häuser verließen alteingesessene Anwohner die Straße. Die Verbliebenen organisierten sich in Bürgerinitiativen und begannen Missstände zu benennen.“

Zuletzt schloss sich das Kulturnetzwerk Wedding Moabit zusammen – um die beiden Bezirke kulturell zusammen zu bringen. Im letzten Jahr veranstalteten sie erstmalig das „Kulturfestival Wedding Moabit“. Als eine von zahlreichen Initiativen beteiligt sich daran auch die Kulturfabrik mit einem kostenlosen Musikprogramm. Denn: „Die Lehrter Straße sollte wieder lebenswert gestaltet werden und Anwohnern eine Perspektive bieten“, wie es auf der Internetseite der Initiative lehrter-strasse-berlin.net heißt.