Ein Büschel Heu vor der Nase

Man kennt sie aus dem Fußball: die Kabinenpredigt. Warum eigentlich nur dort? Nicht nur Fußballtrainer möchten manchmal anderen Beine machen. Solche Leute kommen hier zu Wort. Diesmal Paul Schobel, das Urgestein der Betriebsseelsorge, die sich um die arbeitenden Menschen kümmert. Schobel liest der Politik die Leviten, die Menschen in die Armut treibt. Eine Schande, sagt der katholische Pfarrer

Paul Schobel, 72, bei seiner Kabinenpredigt in der Seilbahn zum Stuttgarter Waldfriedhof. Er arbeitete 38 Jahre lang in der Betriebsseelsorge der Diözese Rottenburg, deren Leiter er von 1991 bis 2008 war Foto: Jo Röttgers

Die Kabinenpredigt von Paul Schobel

Du sollst einem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden“, heißt es in einem Regelwerk im Alten Testament der Bibel (Deuteronomium 25,4). Wenn man schon das Hornvieh als vierbeinige Dreschmaschinen über die Tenne treibt, sollte es doch im Vorübergehen ein Büschel Heu oder Gras erhaschen dürfen. Schon der Apostel Paulus bezieht dieses Wort in seinem Brief an die Korinther auf die arbeitenden Menschen: „Wer drischt, soll in der Hoffnung dreschen, dass er seinen Teil bekommen wird.“ (1. Korinther 9,10).

Darauf hoffen gegenwärtig bei uns 23 Prozent der Beschäftigten vergebens. Sie erzielen mit ihren Niedriglöhnen nicht einmal ihr Existenzminimum und haben das Recht, sich über Hartz IV „aufstocken“ zu lassen. Viele der Betroffenen wissen gar nicht darum, wieder andere schämen sich oder erfüllen schlicht und einfach nicht die Voraussetzungen für einen „Leistungsbezug“. Bekanntlich werden erst mal die Partnereinkommen zum Lebensunterhalt herangezogen und müssen Vermögensteile „verwertet“ werden, bevor der Staat seine segensreiche Hand auftut. Daher gehen viele leer aus. Dennoch kostet die „Aufstockung“ von 1,5 Millionen Geringverdienern den Staat jedes Jahr das hübsche Sümmchen von zirka 11 Milliarden Euro.

Viele NiedriglöhnerInnen haben daher, wenn sie bei der Agentur für Arbeit leer ausgehen, gar keine andere Wahl, als zusätzlich ein zweites Arbeitsverhältnis wie etwa einen Minijob anzunehmen. Den schnappen sie einem Arbeitslosen weg, der ihn gut gebrauchen könnte! Im Übrigen aber bleibt für diese Menschen, die mehrere Jobs aneinanderreihen müssen, weder Zeit noch Kraft für Partnerschaft und Familie, Politik und Kultur – von den gesundheitlichen Folgen ganz zu schweigen. Lange macht das keine(r). Arbeit aber darf doch nicht das Leben kosten.

Dass in einer so wirtschaftsstarken Nation Erwerbsarbeit nicht mehr vor Armut schützt, ist eine Schande! Umso mehr, als durch solche Mickerlöhne auch noch die Altersarmut von morgen programmiert wird – ganz nach dem Motto: Einmal arm, immer arm. Arme Alte aber liegen über die „Grundsicherung“ wiederum dem Staat auf der Tasche. Ein sozialpolitischer Unfug, den begreife, wer mag.

Billiglöhne ramponieren den Wettbewerb

Damit nicht genug: Solche Billiglöhne ramponieren auch noch den wirtschaftlichen Wettbewerb. Spätestens jetzt müssten bei den Marktideologen sämtliche Sirenen schrillen, wäre die Alarmanlage nicht aus politischen Gründen ausgeschaltet worden. Da konkurrieren Billigheimer jene Unternehmen gegen die Wand, die gerechte Löhne bezahlen. Fahren satte Gewinne ein und betrügen ihre Beschäftigten vorsätzlich um den gerechten Lohn. Einige von dieser Sorte rufen, ohne rot zu werden, ihre Belegschaften sogar auf, sich den Rest des Lohnes doch bei den Agenturen abzuholen – auf unsere Kosten. Zahlen wir dafür Steuern und Abgaben?

Im Unterschied zu 21 anderen europäischen Staaten ist die Politik hierzulande nicht willens, diesem Treiben über ein flächendeckendes Mindestlohngesetz Einhalt zu gebieten. Heuchlerisch verweist man auf das Grundgesetz, das die Lohnfindung und -gestaltung den Tarifparteien vorbehält. Nichts lieber als das! Aber eine tarifliche Fixierung bleibt solange ein frommer Wunsch, als immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung fliehen. Also muss der Gesetzgeber dem Missbrauch der Arbeit entgegentreten. Existenzsichernde Löhne berühren das Gemeinwohl, dem die Politik verpflichtet ist. Sie darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde keinesfalls die viel gepriesene und bewährte Tarifautonomie beschädigen – im Gegenteil. Jeder Häuslebauer weiß, dass man erst mal eine Bodenplatte betoniert, bevor man die Wände einzieht. Die Tarifautonomie fände auf der unverrückbaren Basis eines Mindestlohns eine solide Plattform, auf der sie weiterbauen und Tarife ausgestalten kann.

Ein Mindestlohn wäre auch ökonomisch vernünftig: Er versieht einkommensschwache Haushalte mit Kaufkraft, die den Wirtschaftskreislauf beflügeln und die im Exportland Deutschland lahmende Binnennachfrage stärken würde.

„Du sollst einem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden.“ – Im Mittelalter trieb man es noch toller: Man band den Vierbeinern ein Büschel duftendes Heu vor die Nase, dem sie den lieben langen Tag nachgejagt sind, ohne es je zu erwischen. Ein Fall für den Tierschutzverein! Ein Fall für die Politik wäre es, endlich dafür zu sorgen, dass arbeitende Menschen nicht länger vergebens ihrem gerechten Lohn hinterherjagen müssen.