Die Pollenfluchvorhersage

Das zeitgerechte Klagelied eines bedauernswerten Mitmenschen mit Triefnase

Er ist sehr hübsch, der große dunkelhaarige Mann, der mit seinem Fahrrad an der roten Ampel wartet. Und als er meinen Blick erwidert, habe ich ihn sofort ins Herz geschlossen: Er ist ein Leidensgenosse. Er muss Allergiker sein. Denn seine Augen glänzen rot, und ein schöner klarer Faden Rotz rinnt aus seiner Nase. Ja, Frühlingsgefühle haben auch Pollenempfindsame. Schmetterlinge flattern weniger im Bauch, sondern eher im Gesichtsbereich: Die Nase juckt, die Augen brennen, der Hals kratzt. Nicht gerade das, was man sich unter Zärtlichkeiten vorstellt. Und auch diese Sache mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten bekommt eine ganz neue Bedeutung. Man muss nur mal jemanden küssen, dem alles Mögliche aus nahezu allen möglichen Gesichtsöffnungen rausläuft. Das schmatzt und klatscht, so etwas hat man noch nicht gehört.

Wem das auf Dauer zu unangenehm wird, der kann sich desensibilisieren – also sich einfach nicht mehr verlieben – oder sich desensibilisieren lassen. Dazu wird dem Allergiker monatlich der Stoff, der seine Leiden verursacht, injiziert. Ziel des Spiels ist, dass er sich endlich abgewöhnt, auf ökologisch wertvolle Substanzen hysterisch zu reagieren. Ich lasse mir seit zwei Jahren von einem Arzt meines Vertrauens regelmäßig Birken- und Haselpollen in den Arm klüppeln – danach juckt die Einstichstelle in etwa so stark wie gerade eben meine Augen. Aber immerhin hat die Desi, wie ich sie liebevoll nenne, verhindert, dass sich in meinem Körper ein Etagenwechsel vollzieht. Was kein anderes Wort für Wechseljahre ist, sondern bedeutet, dass sämtliche Beschwerden einen Stock tiefer rutschen – vom Gesicht in die Lunge. Das hätte höchstens einen ästhetischen Vorteil: Ich müsste nicht mehr mit roten Augenklößen rumlaufen oder sie unter einer Sonnenbrille verstecken. Aber was bringt mir ein normales Aussehen, wenn ich keine Luft mehr bekomme? Bei mir spielt sich also nach wie vor alles im Obergeschoss ab, was zur Folge hat, dass ich zurzeit gerne zu Hause bleibe, Fenster und Türen verrammele und mir ausmale, wie ich den nächsten April irgendwo oberhalb der Baumgrenze verbringe. Die Wetterfee, die seit ein paar Tagen fröhlich nicht nur sonnige Aussichten, sondern auch die Pollenfluchvorhersage präsentiert, möchte ich am liebsten mit einem voll gerotzten Taschentuch knebeln. Natürlich bin ich so unvernünftig und gehe trotzdem ab und zu vor die Tür, wobei ich die Außenwelt mit einem temperamentvollen Niesanfall begrüße. Besuche von öffentlichen Veranstaltungen sind daher momentan gar nicht möglich.

Vor einigen Jahren wollte ich das noch nicht wahrhaben: Ich ging zur Heuschnupfenhochzeit in Mainz ins Theater, neben mir saß zufällig der ZDF-Journalist Klaus-Peter Siegloch. Das wäre auch gar nicht so schlimm gewesen, hätte ich nicht bis zur Pause mehr oder weniger durchgeniest. Offenbar hatte Herr Siegloch im zweiten Teil der Vorstellung genug vom allergischen Feinstaub auf seiner Brille: Er saß nicht mehr neben mir, sondern drei Reihen weiter vorne. Okay, ich nehme es ihm nicht wirklich übel. Aber wenigstens einmal hätte er „Gesundheit“ sagen können. JUTTA HEESS