Zynische Junge, romantische Alte

LIEBESTOD Das Hamburger Thalia-Theater und das Theater Lübeck befassen sich mit berühmten Liebespaaren. Den PolitikerInnen Antonius und Kleopatra wird mehr Herz zugetraut als den Teenagern Romeo und Julia

VON JENS FISCHER

Die Liebe! Eine Himmelsmacht? Eine Teufelsdroge? Jedenfalls Anlass für höchste Seligkeit und tiefste Trauer – für den Taumel der Lüste und die Folter der Verzweiflung. Vielleicht das aufregendste Gefühl, das wir empfinden können. Und das verwirrendste. Verliebte sind Verrückte, sagt Shakespeare im „Sommernachtstraum“: Beide seien „von so siedendem Gehirn, so üppig wuchernd’ Fantasie, die mehr sieht als kühlere Vernunft begreift“.

Die Feier dieses Zustandes endet bei den Stars unter den Liebespaaren häufig im Freitod oder im Eheunglück. Und doch sehnen wir uns dermaßen nach der Party der Hormone, dass jede Lügengeschichte für wahr genommen wird, um selbst ein Fitzelchen davon zu erhaschen. Oder sich diese Möglichkeit wenigstens vorgaukeln zu lassen.

Beispielsweise im Theater, wo viril im Hier und Heute verortete Romeo-und-Julia-Inszenierungen fast immer Publikumshits sind. Am Hamburger Thalia wird das wohl nicht anders werden. Obwohl: unverstellte Naivität, unverdorbene Lebensfreude, emphatisches Aufblühen, hungrige Leiber? Nirgendwo ein Weltentzündungsvorgang!

Jette Steckel inszeniert den Mythos aller Teenielieben von Beginn an als Tragödie. Wenn Romeo und Julia einander erkennen und dazu ungestüm frisch übersetzte Shakespearesentenzen sprechen, klingt das, als würden sie fremdelnd abschmecken, ob diese mit dem inneren Erleben zur Deckung zu bringen sind. Sie glauben dem Überschwang kein Wort.

Coole Auskenner von heute sollen Mirco Kreibich (Romeo) und Birte Schönink (Julia) spielen, Smartphone-Kids, die sich in Sachen Sex und Ausnahmezustand der Neurotransmitter schon online schlau gemacht haben, die alles wissen und – vor allem Erleben – an nichts mehr glauben.

Mit todtrauriger Geilheit springen sie sich nun an, suchen Sicherheit in Sachlichkeit. Das innere Toben befreit sich nur mal als Schrei oder in Aggressionsschüben. Die beiden haben keine Chance und nutzen sie auch nicht, denn die Liebe – ist immer eine zum Tode. „Es gibt nichts ohne sein Gegenteil“, wie Romeo schon am Anfang resigniert.

Kein freudiger Aufbruch

Und Julias „Leb’ wohl mein Hirn“ ist kein freudiger Aufbruch, sondern willenloses Akzeptieren, dass Liebe die Liebenden oder die Liebe zerstört. Ein anschwellender Rockgitarrengesang mit einem wütend verzerrten Melodiefragment bereitet die Liebestode vor. Das versöhnlerische Finale hat Steckel konsequenterweise gestrichen. Wie der Liebe misstraut sie auch der sühnenden Kraft des Leides.

Beispielhaft ratlos stehen häufig 20 jugendliche Romeos und 20 jugendliche Julias auf der Bühne. Sie beleben als maskierte Statisten mit uniformem Techno-Disco-Gehüpfe zwar das Fest der Capulets, singen auch mal im Chor und gemeinden die Hauptdarsteller in ihre Gruppe ein, meist gucken sie aber nur zu – wie die Schauspieler Shakespeare kosten und so gar nicht trunken, nur melancholisch werden.

Das radikale Gegenteil will Patrick Schlösser in Lübeck inszenieren: „Antonius und Kleopatra“, weitere überlebensgroße Junkies der Paarbildungsdroge. Sozusagen Shakespeares Arthouse-Version des Themas fürs reifere Publikum. Gerade weil die Hauptfiguren eine Generation älter und erfahrener sind als Romeo und Julia, würde man ihnen eher eine zynisch-moderne Swingerclub-Philosophie zutrauen. Schlösser aber sieht Antonius und Kleopatra als romantisch ergriffene Liebende.

Anfangs war er noch ratlos, wie dieses Drama bloß zu inszenieren sei: eine hektisch zwischen zwei Weltreichen, 40 Figuren, zehn Jahren römisch-imperialer Geschichte hin und her springende Handlung, für die Hollywood bereits übermächtig funkelnde Kitschbilder geschaffen hat. Darin den maßlosen Wahnsinn eines Liebesrausches zu fokussieren – gerade das reizte Schlösser schließlich.

Da sind also der legendäre Feldherr Marcus Antonius, der nach Julius Cäsars Ermordung mit Octavius und Lepidus das Zweite Triumvirat in Rom bildet, und Ägyptens Pharaonin Kleopatra VII.: Sie pflegten mit staatsmännischem Kalkül und persönlichen Eitelkeiten ihre Herrschaftsbereiche, sagt Schlösser, dann begegne ihnen etwas, was sie auf ihre alten Tage nicht mehr für möglich gehalten hätten: „Beide spüren wie Romeo und Julia etwas von der Unendlichkeit. Sie wissen um die Nähe von Eros und Tod, um die zerstörerische Kraft der Liebe, und geben sich ihr dennoch unschuldig, bedingungslos hin. Ihre Obsession ist so stark, dass sie ihr alles opfern.“

Wollüstige Verrücktheiten

Die Welt sehe fassungslos den wollüstigen Verrücktheiten zu. „Ich möchte die Narben, die Verletzlichkeit zeigen“, sagt der Regisseur, „aber vor allem deutlich machen, wie sich hier zwei fremde Kulturen begegnen – und nicht gleich gegenseitig auslöschen.“

Bis zur Pause drehten sich kriegstreiberische Staatsaktionen und Verliebtheiten zunehmend hochtouriger, erläutert Schlösser, dann kämen zwei Akte der Besinnung als Kammerspiel mit Romeo-und-Julia-Ende: Antonius’ Suizid folge dem der Kleopatra. Historisch korrekt siegt im Stück die kühl berechnende Machtpolitik des Octavius – er wird zum Kaiser Augustus.

Schlösser verrät, dass er ein anderes Finale inszenieren wird: In Lübeck gelandete Flüchtlinge sollen nach dem doppelten Liebesheldentod die Bühne betreten und auf Kurdisch, Arabisch und Persisch im Chor einen Text sprechen, in dem sie nicht nur bitten, sondern fordern: nicht nur Brot, sondern ein ewig gültiges Asylrecht.

Was das mit dem Stück zu tun hat? Schlösser: „Es spielt auf beiden Seiten des Mittelmeeres, über das heute, 2050 Jahre später, täglich Menschen flüchten und viele mit ihren Schiffen untergehen. Wir wissen das, wir könnten das sehen, wir tun aber meist nichts. Auch ich habe in Berlin eine große Wohnung, da wäre Platz für Flüchtlinge. Aber wenn einer anklopft, mache ich dann auf, werde ich Gastgeber, biete ich Obdach? Oder siegt die Angst?“