Wie Schmerz die Welt verengt

Jeder Zehnte lebt mit chronischen Schmerzen. Die Betroffenen müssen lernen, mit ihrem Leiden umzugehen – ein Prozess, der häufig schwerfällt, wie zwei Erfahrungsberichte aus Berlin zeigen

VON WALTRAUD SCHWAB

Uwe Hinrichs kennt keinen Tag ohne Schmerz. Sein linker Brustkorb sticht und brennt. „Als hätte ich mich in Brennnesseln gelegt“, sagt er. Eigentlich war es eine harmlose Lungenoperation, die der heute 51-Jährige vor 13 Jahren machen ließ. Dabei wurden Nerven beschädigt. Seither hat ihn der Schmerz im Griff. „Mein ganzes Leben ist auf darauf eingestellt. Meine Bewegungen, mein Tagesablauf sind auf den Schmerz ausgerichtet“, berichtet der schlanke, grauhaarige Mann. „Das Letzte am Abend: Wo sind die Tabletten? Das Erste am Morgen: Wo sind die Tabletten? Wenn ich aus dem Haus gehe: Wo sind die Tabletten?“

Schwitzen kann Hinrichs an den Schmerzstellen auch nicht mehr. Im Sommer läuft ihm rechts das Wasser den Körper herunter und links nicht. Das Unausgeglichene macht ihn benommen. Die Medikamente auch. Täglich 90 Milligramm Morphin. Nur so ist es erträglich. Vergisst er einmal am Tag eine Dosis, hat er Entzugserscheinungen: Die Schmerzen werden stärker, er wird unaufmerksam, unkonzentriert.

Hinrichs ist einer von schätzungsweise 400.000 Menschen mit chronischen Schmerzen in Berlin. Sie haben Migräne, Rückenschmerzen, Neuralgien, um nur die bekanntesten Schmerzzustände zu nennen. Etwa 10 Prozent der Betroffenen sind in Behandlung.

Ingrid Blendinger von der Deutschen Schmerzhilfe hält wenig von diesen Zahlen. Denn viele Menschen würden eigene Wege finden, mit ihren Schmerzen zurechtzukommen. „Dann müssen sie auch nicht unbedingt in Behandlung“, meint sie. Wobei es aus ihrer Sicht trotzdem günstig ist, wenn die Patienten möglichst früh mit Schmerzbewältigungstherapien vertraut gemacht werden. Dazu gehören bestimmte Entspannungs- und Ablenkungstrainings. „Wer sechs Wochen chronische Schmerzen hat, die nicht besser werden, sollte einen Schmerztherapeuten aufsuchen.“

Hinrichs haben die Schmerzen verändert. Früher sei er offen und locker gewesen. Heute ist er verschlossener, nicht mehr spontan. Seine Welt ist eng geworden. In Gruppen hat er Angst, denn jede Berührung kann das Leiden verstärken.

Wegen der Schmerzen kreist er um sich selbst. Er musste lernen zu weinen. Auch Suizidgedanken sind ihm nicht mehr fremd. Das Bild vom starken Mann, der keinen Schmerz kennt, hat sich als unhaltbar erwiesen. Es kostet ihn sehr viel Kraft und Disziplin, seine Berufstätigkeit aufrechtzuerhalten. „Am Mittwoch meine ich, es müsste Freitag sein“, sagt er.

Hinrichs ist Verpackungsmechaniker. In der Firma in Großbeeren bringt man Verständnis für ihn auf. Das sei nicht selbstverständlich. Woher sollten die Leute auch wissen, wie es ihm geht. „Man sieht ja nichts.“ An diesem Satz trägt er schwer, denn die Worte spiegeln die ganze Ignoranz, zu der eine „normale Umwelt“ fähig ist: Wo man nichts sieht, ist nichts.

Hinrichs wurde durch den Schmerz verändert. Bei Renate Mahnke sind die Schmerzen indes das Signal, etwas zu ändern. So zumindest versteht sie heute ihre Krankheit. Sie hatte 1998 einen Bandscheibenvorfall. Seither hat sie Scherzen. Konventionelle Behandlungsmethoden haben versagt. „Ich war vorher nie krank. Ich konnte gar nicht verstehen, dass ich plötzlich solche Schmerzen hatte“, sagt sie. Vorher nie krank – und nun das: Ihre Säule, ihr Rückgrat ist angeknackst. Auch sie hat die Schmerzen durch Morphin auf ein erträgliches Maß reduziert. Zudem ist sie in Therapie. „Lange hab ich das nicht für nötig gehalten.“ Nur mühsam lernte sie zu akzeptieren, was ihr Körper ihr sagt.

Renate Mahnke bekam mit 27 eine Tochter mit Downsyndrom. Ihrem heute 34-jährigen Kind hat sie ihr ganzes Leben gewidmet. Sie hat ihren Beruf als Bilanzbuchhalterin aufgegeben, Freunde vernachlässigt. Sie hat das Kind vor einer behindertenfeindlichen Gesellschaft geschützt. So lange, bis sie selbst schutzlos war. Erst seit sie Verantwortung abgibt, geht es ihr besser. „Wer aber lässt sich gern seine Aufgabe, seine Bestätigung nehmen. Erst durch die Therapie habe ich das gelernt.“