Na, was macht die Kunst?

KUNSTRAUM Berlins Kunstszene ist vielfältiger als die anderer Metropolen. Hier gibt es nicht nur Museen oder Galerien. Die vielen Projekträume der Stadt sind gleichzeitig Denklabore, Bierquellen und Debattierclubs

Co-Working-Spaces und Fablabs sind in gewisser Weise die pragmatischen, gleichsam „vernünftig gewordenen“ Nachfolger des Modells Kunstraum

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Der Projektraum mag kein Phänomen sein, das genuin Berliner Natur ist. Aber in Berlin haben diese unscharf definierten Orte für künstlerische und kulturelle Produktion in der Vergangenheit eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt. Dank der speziellen Situation im Berlin der 80er und 90er Jahre waren Ladenlokale oder Lofts mit niedrigen Gewerbemieten noch leicht zu finden. Sie waren oft wichtige Treffpunkte, an denen man zusammenarbeiten oder Lesungen, Filmvorführungen, Ausstellungen, Diskussionen und Parties veranstalten konnte – jenseits des eigenen Wohnzimmers und den Räumen von etablierten Institutionen. Sie waren Denklabor oder soziale Skulptur à la Beuys, Quelle billigen Biers, Orte für mäandernde Diskussionen – aber auch oft für selbstgenügsames Herumhängen.

Als die französische Kunstsoziologin Séverine Marguin vor zwei Jahren für ihre Doktorarbeit eine Studie über die Berliner Projekträume durchführte, fand sie 150 aktive Räume in der ganzen Stadt. Sie dokumentierte auch ihre Geschichte und stellte eine interaktive Karte ins Netz, die mehrere Dutzend Projekträume seit den 70er Jahren verzeichnet. Manche von ihnen sind Orte, an denen Berliner Kunst und Subkultur stattfand, um sich zu definieren und zu entwickeln: Kippenbergers Büro am Oranienplatz oder das Büro Berlin für die Kreuzberger New-Wave-Szene in West-Berlin. In Ost-Berlin für die Boheme des Prenzlauer Bergs das Ladenatelier Scheib oder die EP Galerie Jürgen Schweinebraden, in der westliche Künstler wie Robert Filliou, Tomas Schmit oder Bernd und Hilla Becher – oft zum ersten Mal überhaupt in der DDR – ihre Arbeiten zeigten.

Fischbüro und Schmalzwald

Und Marguins Liste ist nicht einmal vollständig: Es fehlen die Produzentengalerien, die es in Ost wie West zum Teil bereits seit den 60er Jahren gab. Unter einen erweiterten Projektraum-Begriff würden auch Orte wie das Fischbüro fallen, der Schöneberger Ausgangspunkt der Berliner Technoszene. Oder der Schmalzwald, das Kurt-Schwitters-hafte Installationsgesamtkunstwerk der kanadischen Künstlerin Laura Kikauka, das in den 90er Jahren in der Schlegelstraße seine Räumlichkeiten mit Landschaften aus Kitschobjekten füllten.

Ebenfalls in der Nachwendezeit gab es in Mitte den Friseur und das berlintokyo, die Kunstclubs Panasonic und INIT, Hackerspaces wie die C-Base oder den Chaos Computer Club oder die legendäre Automatenbar an der Münzstraße. Hier wurde zwar durch Getränkeausschank Geld verdient, was diese Orte zu in Maßen kommerziellen Unternehmungen macht. Doch wichtige – wenn auch zum Teil nur kurzfristige – Treffpunkte und Kulturorte waren auch sie allesamt. Heutzutage sind die Co-Working-Spaces und Fablabs die pragmatischen, gleichsam „vernünftig gewordenen“ Nachfolger dieses Modells.

Waren Mitte und Prenzlauer Berg in den 90er Jahren Großraumspielplätze für Kunstinitiativen, gibt es hier heute so gut wie keine Projekträume mehr. Dagegen wird es sie in Bezirken wie Wedding, Neukölln oder Moabit trotz steigender Mieten wohl auch zukünftig noch geben. Da sich Kunst und Kultur nicht nur aus dem isolierten Wirken des einzelnen Künstlergenies entwickeln, sondern auch aus dem Dialog und der Kontroverse, bleiben Projekträume wichtige Faktoren für die Existenz einer vitalen Kunstszene. Sie werden sogar immer bedeutsamer, je mehr sich Universitäten und Kunsthochschulen zu Bologna-Lernfabriken ohne Raum für Debatten entwickeln und je mehr sich die Berliner Kunstinstitutionen mit sich selbst beschäftigen – oder mit den Projektförderungskriterien der Bundeskulturstiftung.

Wie eine Kunstszene ohne Projekträume aussieht, kann man am Beispiel des durchgentrifizierten Paris studieren. Dort gibt es keine Projekträume mehr. Aber auch immer seltener zeitgenössische Kunst von Rang.

Marguins Studie: projektraeume-berlin.net

Eine Bestandsaufnahme der Galerienszene zur Berlin Art Week auf SEITE 44, 45