Frauenfantasien

Der Zirkus verspricht eine verkehrte Welt. Für etliche Frauen im 18. und 19. Jahrhundert bedeutete das: einen anderen Lebensentwurf. Als die bürgerliche Frau noch nicht allein über die Straße ging, ritten die Kunstreiterinnen durch die Arena und wurden so gefeiert, dass einige Männer Zuflucht in der Travestie suchten, um als „Artistinnen“ Erfolg zu haben.

Stärke, Leistung, Ehrgeiz und Macht – die Zirkusfrauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts jonglierten mit diesen Attributen. Den Wettbewerb mit ihren männlichen Konkurrenten fordernd, machten sie sich zum Mittelpunkt des Geschehens und ironisierten Erwartungen an die gute Gattin. So setzt sich Claire Heliot in Abendtoilette, geschnürt und dekolletiert an einen feierlich gedeckten Tisch – ihr Gegenüber ist aber nicht ihr Ehemann, sondern ein Löwe. Die Artistinnen besetzen eine Außenseiterposition, die im Widerspruch zu den Idealtugenden der bürgerlichen Frau steht. Doch dafür wurden sie verehrt. Das antibürgerliche Modell von Weiblichkeit ist in dieser Zeit einzigartig. Es gibt keine Berufswelt, in der die Frau so früh gleichberechtigt war. Ihr standen alle Positionen im Zirkus offen – auch als Zirkusdirektorin, Stuntfrau oder Raubtierdompteuse.

Von Schriftstellern und Malern wurde der Zirkus immer schon als Steinbruch für Metaphern benutzt, die viel über die bürgerlichen Fantasien vom Leben der Außenseiter aussagen. Kunstwerke zeigen Stereotype von Zirkusfremden. Romane der Jahrhundertwende zeigen eine Erotisierung der Dompteuse, häufig wird sie sogar sadistisch dargestellt. Ein anonymer pornografischer Roman feiert sie – in Lederstiefeln und mit Peitsche – als Herrscherin, die Männer und Tiere zu Sklaven ihrer Lust macht.

Andererseits galt der Zirkus als der einzige Ort, an dem eine Frau in Ruhe einen fremden männlichen Körper betrachten konnte. Die Zirkusdirektorin Paula Busch schrieb: „Und die Frau, die als Schönheitssucherin den runden Bau betritt, wird sie enttäuscht? Nein, hier baden sich die Augen in frohen Farben, in Licht! Die Frau, die reiner, unpersönlicher sich an der Schönheit freuen kann als jeder Mann, kann der edel gebaute Leib, die sehnigen Glieder schöner Akrobaten und Herkulesse begeistern wie ein herrliches Bild.“ S. HAERDLE

Die Autorin Stephanie Haerdle hat sich intensiv mit Kunst und Leben von Zirkusartistinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland beschäftigt. Ihr Buch „Keine Angst haben, das ist unser Beruf!“ erscheint im Herbst im AvivA Verlag