Herausforderung: Camembert

Im niedersächsischen Dörfchen Asendorf betreiben die beiden ehemaligen Sozialarbeiterinnen Bärbel Wörhoff und Imke Dirks einen Ziegenhof. Ihr Arbeitsalltag aus Füttern, Melken, Käsen und Verkaufen ist hart – und doch gibt es die Erfahrung, dass die Tiere auch Energie zurückgeben

aus Asendorf Eiken Bruhn

Der Anrufer weiß nicht mehr weiter. Sein kastrierter Bock hat Blasensteine. Und jetzt? Bärbel Wörhoff sieht ihre Geschäftspartnerin Imke Dirks fragend und mit einem unterdrückten Grinsen an, doch auch die kann nicht weiterhelfen. Ausnahmsweise. Liegt wohl auch daran, dass sie oder besser ihre 70 Ziegen mit einem kastrierten Bock wenig anzufangen wüssten.

Obwohl die beiden ehemaligen Sozialarbeiterinnen erst seit zwei Jahren und vier Monaten Ziegen halten, sind sie als Expertinnen bekannt, weit hinaus über die Grenzen des Dörfchens Asendorf, eine Autostunde von Bremen entfernt. Schon von weitem leuchten blau gestrichene Stalltüren, ein Schild „Die Ziegerei“ weist den Weg – und lockt Touristen auf den Hof. Die kreuzen gerne immer genau dann auf, wenn die beiden Frauen versuchen, mal etwas Zeit nur für sich zu haben. Zweieinhalb Stunden am Sonntagnachmittag, zwischen Käsen und dem abendlichen Melken.

Wenn nicht die Ziegen oder Ziegenbesitzer nach ihnen verlangen, führen sie Touristen über den Hof. Erklären geduldig, dass die Vorbesitzer die Stalltüren gestrichen haben und ihnen selbst die Zeit für so etwas fehle. Dass der Bock Wladimir aus Frankreich nur eine Leihgabe ist und zu seinem Besitzer zurückkehrt, sobald er im August den Nachwuchs gesichert hat. Und dass die Zicklein keinen seelischen Schaden nehmen, wenn sie nach wenigen Tagen von ihren Müttern getrennt werden.

130 Lämmer hat ihnen die vergangene Saison beschert. Behalten haben sie davon nur zehn Weibchen, die anderen werden mit drei Monaten als Milchziegen verkauft. Die kleinen Böcke, etwa die Hälfte der Jungtiere, sind Ausschussware. „Ihr kommt alle in den Himmel“, sagt Bärbel, traurig und zärtlich zugleich zu den Böckchen im Lämmerstall. In Zehnergruppen stehen dort die Tiere in ihren Buchten zusammen und recken die Hälse nach der Bäuerin, die Milch in Kannen für die Jüngsten heranschleppt. Die Älteren gehen leer aus, seit Wochen schon, aber sie schreien sich trotzdem jedes Mal die Seele aus dem Leib, wenn sich ein Mensch dem Stall nähert. Bis auf ein paar Böcke, die damit beschäftigt sind, sich die Köpfe einzurammen, versuchen die Lämmer über die Gatter zu klettern oder wenigstens ein Stückchen Jacke zu erhaschen. Zur Sicherheit trägt Bärbel eine Mütze im Stall, weil die Ziegen ihr auch schon Haare ausgerissen haben.

„Ziegen sind frech und albern“, beschreibt Imke die „Kolleginnen“, wie sie das Vieh nennt, „du erlebst immer Überraschungen“. Das ist nicht immer erfreulich. Einmal hatten die Lämmer die im Stall aushängende Liste aufgefressen, auf der vermerkt war, welches Lamm wann und von wem geboren wurde. Seitdem fotografieren Bärbel und Imke jedes neu geborene Lamm.

Bei den älteren Ziegen brauchen sie keine Sicherungssysteme mehr, selbst wenn eine so weiß ist wie die andere. Lediglich trächtige Ziegen bekommen ein rotes Band um einen Hinterlauf gewickelt, damit sie nicht versehentlich gemolken werden, „wenn wir morgens noch zu verpennt sind“, sagt Bärbel. Ansonsten kennen sie jede bei ihrem Namen – und ihre Besonderheiten. „Mirabell“ ist verschmust und etwas träge, „Ophelia“ wird auch „die Milchbombe“ genannt, weil sie mit knapp fünf Litern am Tag mehr als anderthalb Mal so viel Milch gibt wie die Durchschnittsziege. „Kamille“ wird gemobbt, weil „Primula“ gerade wieder von ihr den Chefinnenposten zurückerobert hat. Und wenn „Mabel“ auf den Melkstand klettert, jagt sie erst einmal ihre Nachbarin wieder runter.

Doch bei aller Zuneigung, die Ziegen bleiben Nutztiere. Wer nicht genügend Milch gibt, wird aussortiert und kommt in die Wurst. Älter als acht wird kaum eine Milchziege. „Das gehört dazu, wenn man Milch hat, hat man auch Fleisch“, erklärt Bärbel, aber es ist ihr anzumerken, dass sie sich selbst diese Regel erst einmal klar machen musste, während Bauerstochter Imke damit aufgewachsen ist.

Dass ihr Alltag einmal beinhalten würde, feststeckende Lämmer aus ihren Müttern herauszuziehen oder jeden Morgen um sieben und jeden Abend um halb sechs zweieinhalb Stunden zu melken, haben die beiden Vierzigjährigen nicht lange vorher gewusst. Imke begann etwa vier Jahre, bevor sie sich selbstständig machten, wieder Landluft zu schnuppern. Zu der Zeit betreute sie missbrauchte und misshandelte Mädchen in Bremen. Nach acht Jahren merkte sie, dass sie „nicht mehr offen war für jedes Mädchen“, wie sie es ausdrückt. Sie probiert etwas anderes, als Sommer-Sennerin erst auf einer Kuhalp, dann auf einer Ziegenalp in der Schweiz.

Bärbel, die sie kurz zuvor auf einer Fortbildung kennengelernt hat, kommt einfach mit. Als Kind wollte sie Tierärztin werden und studierte dann doch Sozialpädagogik. Wohl fühlte sie sich in ihrem Beruf aber eigentlich nie, erzählt sie. „Du hast eine Löcherstopf-Funktion.“ Was sie lieber machen will, entdeckt sie auf der Alp. „Menschen rauben dir Energie, Ziegen geben welche zurück“, sagt sie.

Die vier Monate sind auch die Nagelprobe, ob die beiden Frauen unter widrigen Bedingungen miteinander arbeiten können. Im Sommer 2002 teilen sie sich mit zwei weiteren Frauen einen acht Quadratmeter-Schlafraum, das „Wohnzimmer“ hat ganze zehn Quadratmeter, die Toilette keine Spülung – „da lernt man sich in allen Lebenslagen kennen“ sagt Imke. Die Arbeit ist so schwer, dass Bärbel acht Kilo abnimmt – obwohl sie viel mehr isst als zu Hause. Doch beide wissen danach: Sie können es miteinander schaffen.

Der Anfang ist hart: In derselben Nacht, in der sie von Bremen auf den Hof umziehen, kommen die hoch trächtigen Ziegen. Umgebaut ist so gut wie nichts, monatelang leben Tiere und Menschen auf einer Baustelle. „Fake it until you make it“, sagt Imke dazu, „tu so als ob, bis es dir gelingt“. In der Küche hängt eine Postkarte mit dem Spruch „Mut tut gut“. Wenn anfangs der Camembert misslang, „da war einem schon zum Heulen“, erinnert sich Bärbel, „das Füttern, das Melken, alles umsonst“. Sie lernt das Käsen jetzt „learning by doing“ von Imke, die eine zweijährige Ausbildung zur „Hofkäserin“ gemacht hat.

Auch die Ziegen brauchten eine Weile, bis sie sich auf die neuen „Arbeitsbedingungen“ eingestellt hatten. Dieses Jahr ist das erste, in dem sie so viel Milch geben könnten, wie es der Wirtschaftsplan vorsieht. 20 Kilo Käse produzieren Bärbel und Imke täglich: Camembert, Feta, Frisch-, Weich- und Schnittkäse, mit und ohne Kräuter. Einen kleinen Teil verkaufen sie selbst auf Bremer Ökomärkten, der Rest geht an Bioläden und einen Großhändler, dem ihr Camembert empfohlen worden war. Imke glaubt, dass sie ihr Geschäft gerade rechtzeitig gegründet haben, als der Markt noch Platz für sie hatte. „Momentan lauft Ziegenkäse gut, aber wenn plötzlich jemand sagt, der ist total ungesund oder die Leute essen ihn einfach nicht mehr, dann war’s das“, sagt Imke.

Auch wenn Bärbel gerade den Fleischhändler verflucht, weil er spontan entschieden hat, noch am Abend die Böcke abzuholen – sie ist glücklich mit ihrem neuen Leben. An Bremen vermisst sie nichts, außer ihre Freundin, die anders als die von Imke nicht auf dem Hof lebt. Luxus für sie sind jetzt zehn Tage Urlaub im Jahr. Und sich morgens den warmen Milchschaum für den Capuccino direkt aus dem Euter zu holen.