Ihre Welt ist ’ne Scheibe

DARTS Ein Szenerapper zapft Bier, in der Halle fliegen die Pfeile in Richtung Sisalboard: bei der Deutschen Meisterschaft im Wedding

VON JURI STERNBURG

„Andreas, wenn du nicht am Schreiben bist, dann bitte ab zu Board 16. Ach ja, und den Verlierer von Board 28 bräuchte ich auch mal bitte“, knarzt es durch die Boxen. Der Verlierer von Board 28 ist nicht etwa von Haus aus ein solcher, sondern hat soeben beim Darts den Kürzeren gezogen. Freitagabend im tiefsten Wedding, genauer gesagt in der Louise-Schröder-Sporthalle, ist die Stimmung gelöst, während der Rest des Bezirks langsam in Totenstarre zu verfallen scheint.

Die Deutschen Seniorenmeisterschaften der Damen und Herren im Darts stehen an, und währen etwa in England bei einem solchen Event Zehntausende in der Halle und Millionen an den Bildschirmen sitzen, betreibt man in Deutschland noch Aufbauarbeit. Der Deutsche Dart Verband (DDV), der das Turnier veranstaltet, zählt an die 10.000 Mitglieder, und in letzter Zeit erfreut sich der Sport auch in Deutschland eines gewissen Hypes, vor allem durch TV-Übertragungen. Aber das ist alles nichts im Vergleich zu den Vorbildern auf der Insel: England gilt als das Mutterland des Dartssports, auch wenn der Name aus dem Französischen stammt. Aber so genau weiß das eh keiner mehr. Als gesichert gilt jedoch, dass der englische Zimmermann Brian Gamlin 1896 die Einteilung der Dartsscheiben festlegte.

Erstaunlich junge Senioren

Keiner der in der Sporthalle anwesenden Senioren dürfte Zeuge dieser historischen Einteilung gewesen sein: Auf den ersten Blick sehen die Senioren nämlich erstaunlich jung aus. „Senioren“ bedeutet in diesem Fall nämlich „Ü40“. Dieser Umstand führt erst einmal zu Depressionen und Selbstzweifeln. Nicht mehr lange, dann könnte man hier selber teilnehmen. Wobei das natürlich nur eine Illusion ist: Den Trainingsrückstand holt man nie wieder auf. Denn auch wenn es in Deutschland wenig Spieler gibt, die von ihrem Sport leben können, gibt es genügend Profis. Zumindest, wenn man jemanden als Profi bezeichnet, der den Großteil seiner Zeit in Training investiert und dazu auch noch Erfolg hat.

„Tobi is ’ne Wundertüte. Aber das nützt uns in der Bundesliga nichts“, raunt ein wartender Spieler dem anderen zu, während Dutzende Damen und Herren nebeneinander auf die Boards werfen, die in halboffenen Kabinen im ganzen Raum verteilt sind. Die beiden Herren im Karohemd scheinen recht zu behalten: Plötzlich schimpft „Tobi“ und stapft aus dem Raum. Offensichtlich ist er aus dem Turnier ausgeschieden.

Vor der Halle hat man es sich gemütlich gemacht: Ein Szenekennern geläufiger Straßenrapper aus Berlin zapft Bier, auf dem Grill brutzeln die Steaks, so wie man das eben erwartet bei einer solchen Veranstaltung. Die halbe Sportwelt beschwert sich ja so gerne über die Kommerzialisierung, da tut es gut, mal Teil einer Veranstaltung zu sein, die größtenteils vom Herzblut lebt.

Bewundernswert sind auch die Schiedsrichter, die oft direkt neben der Dartsscheibe stehen und keine Miene verziehen, während sich Pfeil um Pfeil wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht in den Kork bohrt. „Kork?!“ Der tätowierte Mittfünfziger lacht. „Das ist doch kein Kork. Mit Korkscheiben spielt ja nicht mal mehr mein Kleener, und der is fünf.“ Die Scheiben der Profis bestehen aus Sisalfasern, welche aus den Blättern der Agave gewonnen werden. Muss man wissen.

Das Turnier nimmt seinen Lauf, die Spieler werfen wie vorgesehen die Punkte ab, sprich jeder Spieler beginnt mit einer 301 oder 501 und muss diese Anzahl exakt auf null reduzieren. Selbstverständlich gibt es zig Variationen des Spiels. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht und bei den Damen wurde bis vor das Finale durchgespielt, auch bei den Herren stehen die letzten vier fest. Dann wird das Finale plötzlich auf den nächsten Tag verlegt: Eine derart auch von den Nerven abhängige Sportart braucht Konzentration. „Wat will man machen, nä?“, analysiert einer der Anwesenden die Situation. Am Samstag und Sonntag folgten zudem noch die Einzel- und Doppelwettbewerbe für Damen und Herren mit dem amtierenden deutschen Meister sowie die Jugendwettbewerbe. Da ging das ganze Spiel dann von vorne los.