Anmaßend und bescheiden

LANDART Den eigenen Körper zum Maßstab erheben: Richard Long im Hamburger Bahnhof in Berlin

Manchmal klingen Legenden einfach zu schön, um wahr zu sein. So ist das auch mit der ersten Arbeit von Richard Long, der im Kindesalter seine Bestimmung als Künstler entdeckt haben will. Daheim im englischen Bristol stieg er im Winter auf einen Hügel, formte einen Schneeball und ließ ihn die Böschung herunterrollen. Der kleine Lawineneffekt interessierte ihn nicht, nein, es war die Spur, die der Ball hinterlassen hatte. Long ging ins Haus und holte den Fotoapparat. Er hielt den Verlauf des Schneeballs fest – und hatte so schon sein Arbeitsprinzip entdeckt, von dem er bislang nur in Nuancen abgewichen ist.

Die Konservierung von Spuren: Seit mehr als vierzig Jahren hat Long sich ihr verschrieben, doch in den letzten Jahren schien sein Werk zusammen mit der Land Art, zu deren wichtigen Vertretern er zählt, ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Longs Ausstellung „Berlin Circle“ im Hamburger Bahnhof in Berlin ist seine erste Museumsschau in Deutschland seit zehn Jahren. Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie, hatte schon lange vor der Eröffnung angedeutet, er wolle Richard Longs Werk mit dieser gewiss nicht unbedeutenden Ausstellung einer „neuen Rezeption“ zugänglich machen.

Ob das wirklich nötig ist, sei dahingestellt, doch Impulse dürfte Longs beinahe monumentale Ausstellung zweifellos geben. Zumal sie durch die parallel gezeigte Überblicksausstellung „Land Art“ schwer didaktisch unterstützt wird. In deren Arbeiten spiegelt sich das Verhältnis von Mensch und Natur auf virtuose Weise, wobei das nicht selten an zwei Herren auf einem Felsen erinnert, die sich bei Nacht den Mond beschauen. Vielleicht ist diese romantische Haltung die neue Rezeption, die von Kittelmann beschworen wird?

Schließlich erscheint einem die Land Art in Zeiten der Atomkatastrophe plötzlich wie ein kritischer Kommentar der instrumentellen Vernunft; und ganz sachte kündigt sich in einer jüngeren Generation auch ein Revival an – etwa bei der in Berlin arbeitenden italienischen Künstlerin Debora Ligorio. Ihr Bezug auf Long ist nicht zu übersehen, wenn sie für ihre Videoarbeit „Lungomare“ in zehn Tagen 100 Kilometer entlang des Golfs von Neapel zu Fuß zurücklegte.

Gut zu Fuß

Schon Richard Long war gut zu Fuß, tage- und nächtelang streifte er durch die Wildnis: So entstanden seine wohl bekanntesten Arbeiten, darunter die Fotografie seiner Spuren in einer Wiese, die er immer und immer wieder abschritt: „A Line made by walking“, 1967.

In der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs, die keinen Quadratmeter zu klein für seine Arbeiten ist, zeigt Long, was er mit den Dingen getan hat, die sich auf solchen Exkursion fanden: Ein monumentaler Schlammkreis, der „Mudd Circle“, wacht zentral in der Mittelachse der Halle, in der die anderen Exponate angeordnet sind. Beinahe wirkt es so, als spende der „Mudd Circle“ ihnen Licht, wobei er im Schieferkreis des „Berlin Circle“ gewissermaßen widergespiegelt wird. Das ist eine Arbeit aus der Sammlung Marx, die Long erstmals 1996 in Berlin zur Eröffnung des Hamburger Bahnhofs präsentierte. Dazwischen: Vier Kreise und Ovale aus Stein und Torf, die von einem weitläufigen Zeitbegriff zeugen, erkennt man erst einmal in ihrem Material die Speichermedien.

Vielleicht kommt, wer sich nur lange genug die Achse anschaut, auf den Gedanken, dass so etwas nur ein Engländer machen kann: ist es doch anmaßend und bescheiden zugleich, den eigenen Körper und seine Bewegung im Raum zum Maßstab zu erheben, der die Mittel und Möglichkeiten der Kunst, aber auch der Welt definiert, in der diese Kunst sinnfällig wird. Dass sich Richard Long nun im Hamburger Bahnhof sesshaft niederlässt, bedeutet so gesehen, dass man eben, mit den Jahren, ja auch nicht jünger wird.

STEFAN OSTERHAUS

■ Bis 31. Juli, Hamburger Bahnhof, Berlin