Die nette Erbin

AUS AULNAY-SOUS-BOIS DOROTHEA HAHN

Der kleine Mann mit Schirmmütze zittert vor Aufregung. Mit beiden Ellenbogen drängelt er sich durch die Traube aus Journalisten, Bodyguards und Front-National-Mitgliedern. Bis er vor Marine Le Pen steht. „Ihr Vater hat etwas sehr Schlimmes gesagt“, bricht es aus ihm heraus: „Er hat gesagt: Geht zurück nach Hause.“ Der kleine Mann spricht das harte Französisch der Nordafrikaner. Er wedelt mit einer in Plastik geschweißten Karte vor dem Gesicht der großen blonden Frau. „Sind Sie Franzose?“, fragt die. Er nickt. Sie lacht. Es ist ein derbes, lautes Lachen: „Dann gilt das nicht für Sie. Sie sind manipuliert worden.“

„F wie Faschismus, N wie Nazis“, skandieren zwei Dutzend junge Männer. Alle sind jung und weißhäutig. Alle haben angespannte Gesichter. Manche tragen Tücher davor. Sie haben sich untergehakt, um Marine Le Pen den Weg über den Wochenmarkt von Aulney-sous-Bois zu versperren. Eine Arme-Leute-Banlieue 15 Kilometer östlich von Paris. „Papiere für alle“ rufen sie. Und immer wieder einen Slogan aus dem spanischen Bürgerkrieg: „No pasarán“. „Die können ja nicht einmal Französisch“, grummelt eine weiße Frau mit Einkaufstasche. „Gesindel!“, zischt die schwarze Französin neben ihr. „Zum Glück gibt es die Front National“, meint eine Frau mit starkem polnischen Akzent, „die sagt wenigstens offen, was viele denken.“ Ob sie am 22. April bei den Präsidentschaftswahlen für Jean-Marie Le Pen stimmen werden, will keine der drei Frauen verraten. „Wahlgeheimnis“, sagen sie wie aus einem Mund. Polizisten schieben die Demonstranten in eine Seitenstraße ab. Als sie verschwunden sind, grölt ein junger Mann aus der Traube um Marine Le Pen: „Gibt es immer noch Kommunisten?“ Lachend brüllt ein anderer zurück: „Ja – die machen Völkermorde.“

Die Vizepräsidentin der Front National hat sich zurückgehalten, wie es sich für eine Politikerin gehört, die als Staatsfrau auftritt. Sie schüttelt so viele Hände, wie sie auf dem Markt findet. Und sie hält ihre Mundwinkel ununterbrochen zu einem Lächeln breit gezogen. Erst als die Gegendemonstranten abgedrängt sind, sagt sie, mit Bedauern in der Stimme: „Das sind Linksradikale, die keine Ahnung von Demokratie haben.“ Journalisten halten ihr Mikrofone hin. Ein Mann im grünen Parka ruft ihr zu: „Bravo. Sie sind mutig.“ Ein Erdbeerverkäufer fotografiert sie mit dem Mobiltelefon. Eine stark geschminkte alte Dame mit Stöckelschuhen und kurzem Rock zieht eine junge Afrikanerin vom Trottoir in die Traube herein. „Heuchler“, schimpft ein Mann, „wenn ihr könntet, würdet ihr das Mädel abschieben.“ Das Mädel trägt Perlen im Haar. Mittags ist ihr strahlendes Gesicht in den Fernsehnachrichten zu sehen – ganz nah an dem der Vizepräsidentin der Front National. Das Publikum soll verstehen: Marine Le Pen ist nicht rassistisch.

Die Tochter des Chefs der Front National hat die Kampfeslust und Energie ihres Vaters. Aber natürlich nicht dessen Vergangenheit – von den Kolonialkriegen in Indochina und Algerien über Schlägereien in Frankreich bis hin zu politischen Kontakten zu deutschen SS-Männern. Marine Le Pen ist 39 Jahre jung. 2002, als ihr Vater bei den Präsidentschaftswahlen zweitstärkster Kandidat wurde, hatte sie ihr politisches Coming-out. Wenn der Alte anderweitig eingespannt war, übernahm die Rechtsanwältin seine Fernseh- und Radioauftritte. Seither wollen die Journalisten nur noch sie. Oder natürlich ihren Vater. Die anderen Männer aus der Front National sind vergessen. Die Erbfolge ist geregelt. Vorerst als Familiensache.

Mit 78 Jahren führt Jean-Marie Le Pen in diesem Frühling seine letzte Präsidentschaftskampagne. Obwohl die Umfragen anderes prognostizieren, gibt er sich gewiss, wieder in den zweiten Durchgang zu kommen: „Die Ereignisse geben mir recht“, sagt er. Nie sei die patriotische Haltung in Frankreich so weit verbreitet gewesen wie in diesem Wahlkampf. Der Alte verlässt nur noch selten sein Hauptquartier auf dem von zahlreichen Deutschen bewohnten „Sauerkrauthügel“ in Saint-Cloud im vornehmen Westen von Paris. Bis zum ersten Durchgang der Wahlen hat er bloß zwei große Meetings geplant.

Das Terrain, die Märkte und viele Interviews überlässt er Marine. Er hat die jüngste seiner drei Töchter, die auch im Regionalparlament der Hauptstadtregion Île de France und im Europaparlament sitzt, zur Vizechefin der Partei gemacht. Und zur „strategischen Direktorin“ seiner Kampagne. Seither hat sie radikal an ihrem eigenen Aussehen gearbeitet. Am Stil ihres Vaters. Und an dem Image der Front National.

Marine Le Pen hat elf Kilo verloren, ihre Haare auf Schulterlänge gestutzt und sich eine neue, feminine Garderobe zugelegt. Sie trägt jetzt hautenge Röcke und Hosen. Ihre neue Ausstrahlung inspiriert selbst Gegner. In „Marine“ besingt der Chansonnier Philippe Katerine eine blonde Sexbombe, die sich bei genauerem Hinsehen als Marine Le Pen entpuppt – und ihn anschließend quer durch Paris bis in seine Träume verfolgt.

Unter der Federführung der Vizepräsidentin entdeckt die Front National auch neue Themen. Die Löhne – natürlich nur für französische Arbeiter –, die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn – die erhöht werden soll – und die Alkoholgrenze am Steuer – die zu niedrig angesetzt ist. Mit Marine Le Pen sind auch neue Leute in die Spitze der Front National gekommen. Darunter der Exkommunist Alain Soral, der die „blau-weiß-rote Revolution“ zum Slogan gemacht hat und der an diesem Tag auf dem Wochenmarkt von Aulnay-sous-Bois von jungen Männern umgeben ist, denen er erklärt, dass die „Linksradikalen“ sich in der Banlieue „wie in Kolonien“ verhalten. Und dass es nur den Bossen nütze, wenn „klandestine Ausländer“ für 300 Euro im Monat die Löhne kaputt machten.

Neu im Programm sind auch die Werbeposter, die eine junge Frau mit dunkler Hautfarbe zeigen. Sie trägt tiefsitzende Jeans, unter denen ein roter Slip hervorlugt. Marine Le Pen hat die Poster gemacht, weil sie weiß, dass sich Präsidentschaftswahlen in der Banlieue entscheiden können.

Musikalisch ist Marine Le Pen längst in der Banlieue angekommen. „Marine, was für ein sanfter Name“, singt die Rapperin Diams, die erfolgreichste junge Stimme aus der Banlieue. Dann beschreibt sie den Hass, den Le Pen sät. Und schreit ihren Refrain ins Mikrofon: „Ich scheiße auf die Front National“. Die Politikerin weiß, dass ein Hit ihrer Karriere nutzen kann. „Das einzige, was mich daran stört, ist das Wort Scheiße“, sagt sie. Das sei: „exzessiv“.

Die Vizepräsidentin der Front National gibt sich staatsfräuisch. Predigt Anstand. Gegen Exinnenminister Sarkozy gerichtet, der die rechtsextremen Wähler abwerben will, formuliert sie: „Es ist nicht gut, Jugendliche als Gesindel zu bezeichnen.“ Einem Marokkaner, der ihr in Aulnay-sous-Bois zuruft: „Ich respektiere Frankreich“, entgegnet sie: „So muss es sein.“ Einen Mann, der „Dummheiten“ erwähnt, die er im Leben gemacht habe, fordert sie auf, „anständig“ zu bleiben, nachdem er seine „Schuld an die Gesellschaft“ bezahlt hat.

Mit ihrem Vater hat sich Marine Le Pen ein öffentliches Gefecht geliefert, um die Front National respektabler zu machen. Der Alte hatte sich wenige Monate nach den letzten Präsidentschaftswahlen mit einer neuerlichen Zweideutigkeit über das NS-Regime in Erinnerung gebracht. „Die deutsche Besatzung in Frankreich“, sagte der Alte, sei „nicht besonders brutal“ gewesen. Daraufhin verschwand seine Tochter mit ihren drei Kindern in der Bretagne.

In Frankreich funktioniert die neue Linie. Le Pen – Vater und Tochter, die noch vor fünf Jahren von den Medien geschnitten wurden, geben seit Monaten Interviews in allen Richtungen. „Wir haben 2002 erfahren, dass Le Pen trotz unserer Zensur in den zweiten Durchgang gekommen ist“, erklärt eine junge Journalistin der Frauenzeitschrift Elle, „jetzt versuchen wir, ihn und seine Tochter wie andere Politiker auch zu behandeln.“ Im Ausland sieht das anders aus. So versagte Israel noch vor wenigen Monaten einer Delegation des Europaparlaments die Einreise. Begründung: die Beteiligung von Marine Le Pen.

Zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen empfiehlt die Tochter in Aulnay-sous-Bois ihren Vater als „besten Kandidaten für Frankreich“. Er sei „kein bisschen rechtsextrem“, sagt sie. Und beschreibt die eigene Bewegung als „Volkspartei, die die besten Ideen von rechts und links aufgegriffen hat“.

Auf dem Wochenmarkt von Aulnay-sous-Bois sind Politikerbesuche aus dem benachbarten Paris selten. Auch Journalisten kommen sonst nur in die 80.000-Einwohner-Stadt, wenn dort Autos angezündet werden. Schon allein, dass sie für eine kurze Stunde gekommen ist, rechnen ihr auf dem Wochenmarkt manche hoch an. Eine Chinesin beobachtet die Traube um „Maline“ Le Pen vom Trottoir aus. „Die welden hiel viele Stimmen kliegeln“ sagt sie: „Zu viele Ausländel.“