Der Alte

KURZGESCHICHTE Karl ist Flaschensammler in Hamburg-St.Pauli. Nacht für Nacht zieht er mit seinem Einkaufswagen über den Kiez, die Reeperbahn aber meidet er – zu viele schlechte Erfahrungen

■ 34, ist Autor und lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story „Glück“ gewann er im selben Jahr den Open Mike.

Karl stand am Fischmarkt und blickte über den Fluss. Im Trockendock gegenüber lag ein Kreuzfahrtschiff – keins von den ganz großen, aber dennoch war es beachtlich. Es war warm, es dämmerte, und die Lichter der Docks brannten schon. Auch das Schiff war hell erleuchtet, gedämpft drang das Hämmern und Schleifen zu ihm herüber. Die Arbeiter wirkten von hier aus klein, ihre Bewegungen waren kaum zu erkennen. Gerne hätte er sich auf dem Schiff einmal umgesehen, wäre durch die Gänge zu den Kabinen gelaufen oder hätte vom Deck aus hinüber zum Fischmarkt gesehen. Dorthin, wo er jetzt stand, dorthin, wo er täglich seine Arbeit begann.

Er zog an seiner Zigarette und warf sie in die Elbe. Ein letztes Mal sah er zum Schiff hinüber. Es war jetzt fast dunkel, und die Hafenkräne im Hintergrund waren kaum noch zu erkennen.

Er hatte den Einkaufswagen an eine Laterne gekettet. Früher hatte er ihn einfach so abgestellt, aber er war ihm ein paarmal abhandengekommen, und dann hatte er die Idee mit dem Fahrradschloss gehabt.

Die erste Station, die er ansteuerte, war ein kleines Haus in der Hafenstraße, direkt unterhalb einer Brücke. Um diese Uhrzeit war dort meistens noch nicht viel los, aber später würde sich das ändern. Aus der offenen Tür drang Musik, und auf der Treppe, die hinauf zu dem kleinen Park mit den Metallpalmen führte, saßen ein paar Jugendliche. Sie schienen ihn nicht zu bemerken, als er drei Flaschen, die neben einer Mauer standen, in den Wagen legte. In einem Papierkorb an einer Bushaltestelle fand er eine weitere Flasche.

Er hatte eine feste Route: Hafenstraße, Helgoländer Allee, Seewartenstraße, Bernhard-Nocht-Straße, Pinnasberg, Pepermölenbek und dann wieder von vorn. Unter der Woche musste er die Runde manchmal vier oder fünfmal machen, um den Wagen vollzukriegen, aber am Wochenende reichte oft schon eine Tour. Die Reeperbahn mied er, auch wenn dort am meisten zu holen war; die Reviere waren fest abgesteckt, und auf der Reeperbahn bekam man leicht Probleme. Einmal hatte ihm so ein junger Kerl eine gelangt, als er eine Flasche von einer Treppe am Hans-Albers-Platz aufgehoben hatte.

„Verpiss dich, du Penner“, hatte ihm der Kerl nachgerufen, und als er am nächsten Tag aufwachte, war sein Auge geschwollen.

Die Flaschen im Wagen klirrten, als er am Tropeninstitut vorbeilief. Es war seine dritte Runde, und es war schon einiges zusammengekommen. Er stieg die paar Stufen hinauf zu dem Mülleimer, aber der war leer, und als er wieder hinunterging, sah er zu den Gebäuden hinüber. In den großen Fensterscheiben spiegelten sich Lichter. Früher hatte hier die Brauerei gestanden. Karl dachte an die Bierkisten, die sich auf dem Hof getürmt und die Mauer überragt hatten. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und auch wenn er oft weg gewesen war, war er immer wieder hierher zurückgekehrt – sein Heimathafen eben. Aber seit einer Weile fühlte er sich fremd hier, und das, obwohl er die Stadt schon lange nicht mehr verlassen hatte.

Er sah die Leuchtreklame schon von Weitem – „Zum glühenden Anker“ war über dem Eingang zu lesen. Eine der Neonröhren war kaputt und flackerte. Er öffnete die Metallpforte, die zum Hinterhof führte, und schob den Einkaufswagen zu den Mülltonnen, dann ging er wieder nach vorne. Er drückte gegen die Tür und betrat die Kneipe. In dem kleinen Fernseher, der in der Ecke über dem Dartautomaten hing, lief ein Boxkampf. Der Fernseher flimmerte, aber die zwei Männer, die an dem Tisch vorm Fenster saßen, blickten zum Bildschirm hinauf.

„Abend“, sagte er und ging zum Tresen hinüber. Die Männer nickten, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Er setzte sich auf einen Hocker, holte den Tabak aus der Hosentasche und legte ihn auf die Theke. Karin war nicht zu sehen, aber er hörte sie in der Küche mit dem Geschirr klappern. Er drehte sich eine Zigarette, und als er sie anzündete, kam sie an den Tresen.

„Hallo“, sagte sie, nahm ein Glas aus dem Regal und hielt es unter den Zapfhahn.

„Halbzeit?“, fragte sie, und Karl nickte.

Er stand mitten auf dem Hans-Albers-Platz, zwischen all den Menschen. Überall blinkten Lichter, und er hatte noch immer Karins Worte im Kopf.

„Tut mir leid, Karl“, hatte sie gesagt. „Tut mir wirklich leid“, und dann hatte sie zu ihrer Hand geblickt, die neben seiner Hand auf dem Tresen lag.

Er lief ziellos durch das Viertel, vorbei an Kneipen und Spielotheken, in denen, wie er wusste, manchmal nur eine Person die ganze Nacht über alle Automaten bediente. In der Hoffnung, einmal den großen Gewinn einzustreichen.

Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und auch wenn er oft weg gewesen war, war er immer wieder hierher zurückgekehrt – sein Heimathafen

Es wurde langsam hell, aber auf der Reeperbahn war noch immer viel los. Vor einem Kiosk standen ein paar junge Männer, die aus Plastikbechern tranken, und vor dem S-Bahn-Eingang durchsuchte eine Frau die Mülleimer. Sie hielt einen Stoffbeutel in der Hand, in dem sie jetzt eine Bierflasche verschwinden ließ. Sie war jung, vielleicht Anfang dreißig, aber sie hatte eine geduckte Haltung.

Die Fahrstuhltür schloss sich geräuschlos, und er betrachtete sich im Spiegel. Seit das Haus, in dem er fast dreißig Jahre gelebt hatte, abgerissen worden war, lebte er in dem Hochhaus, das am Anfang der Reeperbahn stand. Seine Wohnung lag im elften Stock, es gab eine Zentralheizung und einen Balkon, von dem aus man den gesamten Hafen überblicken konnte, aber er hatte sich noch immer nicht eingelebt, und er kannte keinen seiner Nachbarn. Er wusste, dass er von einigen der anderen Sammler der Alte genannt wurde, und es hatte ihn nie gestört. Es war ein Spitzname, mehr nicht. Aber jetzt, als er in dem Fahrstuhl stand und sich in dem großen Spiegel ansah, fiel es ihm auf. Er war ein alter Mann, der in einer Welt zu Hause war, die sich nach und nach auflöste. Er dachte an den süßlichen Geruch der Brauerei, der früher über dem Viertel hing, er versuchte sich zu erinnern, wann er zum ersten Mal im „Glühenden Anker“ war, wann er Karin zum ersten Mal begegnet war, aber es gelang ihm nicht.

Er stand auf dem Balkon und blickte über die Stadt. In der Ferne konnte er ein paar Möwen ausmachen, sie waren nur als Punkte zu erkennen. Es war jetzt hell, aber im Hafen brannten noch vereinzelt Lichter. Ein Schlepper zog ein Containerschiff flussaufwärts, es war voll beladen, und die Container wirkten vom Balkon aus wie bunte Bauklötze. In den letzten Jahren hatten einige der alten Kneipen dichtgemacht, er hätte es ahnen können. Er dachte an den Einkaufswagen, der noch immer hinter der Kneipe bei den Mülltonnen stand.

Dies ist eine Kurzgeschichte aus Jens Eisels Buch „Hafenlichter. Stories“, erschienen im September 2014 beim Piper Verlag, München, 144 Seiten