„Das Kind in den Mittelpunkt stellen“

Der Bildungsforscher Wilfried Bos unterstützt das Zwei-Säulen-Modell. Eine Schule nach skandinavischem Vorbild wäre pädagogisch machbar – politisch aber nicht. Bos diskutiert morgen mit Rosi Raab und anderen Experten im taz-Salon

WILFRIED BOS leitete die Schulstudien Kess und Iglu und forscht an der Uni-Dortmund.

taz: Herr Bos, wir haben Sie zu unserem morgigen taz-Salon zum Thema Bildung eingeladen. Sie treten für das Zwei-Säulen-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium ein. Heißt das für Sie, eine Schule für alle nach skandinavischem Vorbild kommt für Deutschland nicht in Frage?

Wilfried Bos: Es wäre in Deutschland nicht durchsetzbar. Weil das Gymnasium eine lange Tradition hat, können wir es nicht abschaffen.

Das ist ein politisches Argument, kein pädagogisches.

Stimmt. Unsere Nachbarländer machen uns vor, dass es anders gehen kann. Aus pädagogischer Sicht spricht nichts gegen ein skandinavisches Schulmodell. Dort machen auch 60 Prozent und mehr Abitur. Auch das könnten wir, wenn wir es richtig anstellen, schaffen.

Sie haben 2003 in der Kess-Grundschulstudie die Bildungschancen untersucht. Ein Chefarztsohn hat demnach bei gleicher Intelligenz und gleichem Können eine dreimal höhere Chance aufs Gymnasium zu kommen als die Tochter einer türkischen Putzfrau. Hat die künftig bessere Chancen?

Unter Umständen ja. Sie hat die Chance, an der Stadtteilschule nach 13 Jahren Abitur zu machen. Ähnlich wie es heute schon in Baden-Württemberg an Beruflichen Gymnasien möglich ist. Aber viel wichtiger ist die Frage des Unterrichts. Das ist die viel größere Baustelle. Egal in welcher Struktur: Wir müssen das Kind in den Mittelpunkt stellen. Das haben wir in den letzten 40 Jahren versäumt.

Sie haben in Kess festgestellt, dass die Verteilung auf die Schulformen fehlerhaft ist.

Ich sage dazu nicht fehlerhaft, sondern nicht optimal. Ein Kind mit nur 80 von 150 möglichen Punkten in Lesekompetenz kann auf das Gymnasium kommen, eines mit 120 Punkten kann auf die Hauptschule kommen.

Wie sollen die Kinder künftig auf die beiden Säulen verteilt werden?

Wie bisher. Wir können auch mit feineren Messinstrumenten keine Fehler vermeiden. Heute sind etwa 40 Prozent der Empfehlungen suboptimal, das könnte man vielleicht auf 20 Prozent verringern. Die Lehrer werden ihre Empfehlungen abgeben und dabei neben der Leistung des Kindes das Elternhaus berücksichtigen. Sie wissen, dass beim Professorensohn die Nachhilfemaschine von allein anläuft, während die türkische Putzfrau vielleicht nicht in der Lage ist, deutsche Grammatik zu korrigieren.

Und diese fehlende häusliche Unterstützung gibt es in der Stadtteilschule?

Wenn es gut gemachte Ganztagsschulen sind, ja.

Führt diese Aufteilung nicht zu einer sozialen Spaltung?

Das ist eine Gefahr, das muss man so sehen. Es könnte natürlich auch ein Gymnasium sagen, wir machen uns ganz gezielt die Förderung dieser Kinder zur Aufgabe.

Was ist Gelingensbedingung für die Stadtteilschule?

Die Mischung der Schülerschaft muss stimmen. Sonst wird sie zu einer Restschule.

Heißt das, man muss das Gymnasium klein halten?

Ja. Es ist für die, die das Abitur in zwölf Jahren packen. Gehen 60 Prozent auf Gymnasium, funktioniert das Modell nicht.

Hamburgs SPD-Spitzenkandidat Michael Naumann sprach sich gerade für das Gymnasium aus, weil auch er ein Produkt dieser Schule sei. Was ist mit Ihnen? Muss man das Gymnasium besucht haben, um ein guter Schulforscher werden zu können?

Ich bin Hauptschüler. Ich bin über die Volksschule, Handelsschule, Fachoberschule und Fachhochschule zur Universität gekommen. INTERVIEW: KAIJA KUTTER